Was ist falsch in der Rede von Lars Klingbeil?

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Zur „grundlegende(n) Neupositionierung sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik“

Von Wilfried Schollenberger

Anlass

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat die Friedensbewegung, im engeren wie im weiteren Sinn, tief gespalten. Dabei zeichnet sich eine grundsätzliche Wende in der deutschen und (west-)europäischen Außenpolitik ab. „Frieden schaffen ohne Waffen“ war ja keine rein pazifistische Parole. Sie war Ausdruck der Erkenntnis, dass ein friedliches Zusammenleben von Staaten mit teilweise gegensätzlichen Interessen und Werten nur auf der Grundlage von Kooperation und Ausgleich möglich ist und rein militärisch keinesfalls (langfristig) erreicht werden kann. Im Prinzip wurde diese Einsicht selbst von Politikern wie Helmut Schmidt[1] geteilt, die auch ein militärisches Gleichgewicht für notwendig hielten. Deshalb ist die aktuelle Debatte um außenpolitische Grundsätze von einem Kampf um die Neu-Interpretation der Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg geprägt.

Ein Beispiel ist die Rede des SPD-Co-Vorsitzenden Lars Klingbeil zur „grundlegende(n) Neupositionierung sozialdemokratischer Außen- und Sicherheitspolitik“, die er am 19.10.2022 auf der SPD-Veranstaltung „Zeitenwende: Sicherheit und Frieden in Europa“ gehalten hat[2]. Im Dezember diesen Jahres soll auf dem Parteitag dazu ein Grundsatzbeschluss gefasst werden.

Grundsätzlich ist Lars Klingbeil schwer zu widersprechen, wenn er sagt: „Es kann und wird mit Russland keine Rückkehr zum Status Quo vor dem Krieg gegen die Ukraine geben. Die Welt vor dem 24. Februar gibt es nicht mehr. Wir tragen jetzt die Verantwortung, das Neue zu gestalten.“ Allerdings betrifft das vor allem die wirtschaftlichen Verflechtungen: Dass westliche Unternehmen ihre gerade geschlossenen und aufgegebenen Niederlassungen und Investitionen in Russland schnell wieder öffnen bzw. aufnehmen, ist schwer vorstellbar. Aber eine europäische Sicherheitsarchitektur lässt sich nach meiner Überzeugung nur im Konsens mit allen relevanten Akteuren, also auch Russland, aufbauen.

Lässt sich Klingbeils „Neupositionierung“ immanent kritisieren? Und wenn ja, wie?

 

Geschichts-Revisionismus

In seiner Rede pflegt Lars Klingbeil einen verklärten und selektiven Bezug auf die Entspannungspolitik Willy Brandts, Egon Bahrs und Helmut Schmidts.

Brandts Außenpolitik

Lars Klingbeil meint: „Seine [Brandts] Außenpolitik war ein erfolgreicher Dreiklang aus erstens Diplomatie, zweitens klarer Haltung mit Blick auf Menschenrechte und internationales Recht – darunter das klare Bekenntnis zur Unverrückbarkeit von Grenzen – und drittens der eigenen militärischen Stärke.“

Zuallererst: Brandt und Schmidt folgten sehr konsequent dem Grundsatz der „Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten“, der letztendlich die Gründung der OSZE erst ermöglichte. Diesem Grundsatz folgend verzichteten sie später unter anderem auf eine offizielle Unterstützung von Solidarność. Auch Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR oder der Schießbefehl und die Selbst-Schuss-Anlagen an der innerdeutschen Grenze wurden nicht zum Anlass für den Abbruch von Gesprächen genommen.

Gegenüber der UdSSR, Polen und der DDR war ihre Außenpolitik, sehr zum Unmut der CDU/CSU, durch Rechtsverzicht geprägt: In ihrer Amtszeit hat die BRD im Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 (in Kraft getreten am 12. Juni 1972) erklärt, dass sie keine Gebietsansprüche gegen irgendjemand hat und solche in Zukunft auch nicht erheben wird, und dass sie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich betrachtet, wie sie am Tage der Unterzeichnung dieses Vertrages verlaufen, einschließlich der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze zur Volksrepublik Polen und der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Dieser faktischen Anerkennung wurde juristisch 1975 durch das Bundesverfassungsgericht widersprochen, welches erklärte, Veränderungen im territorialen Status von Deutschland könnten völkerrechtlich verbindlich allein von den vier Siegermächten vorgenommen werden.[3]

In Bezug auf die militärische Stärke betonte Helmut Schmidt in seinem Buch „Die Strategie des Gleichgewichts“, dass der defensive Charakter „unserer Sicherheitspolitik“ immer klar erkennbar bleiben müsse[4]. Deshalb war der NATO-Doppelbeschluss in der SPD besonders stark umstritten und wurde nach dem Verlust der Regierung auch abgelehnt.[5]

Im Übrigen zeigen die SIPRI-Daten, dass die Rüstungsausgaben preisbereinigt zur Regierungszeit Willy Brandts nicht höher waren als in der letzten Legislaturperiode Angela Merkels. Lediglich der Anteil am BIP war größer (siehe Tabelle oben).

 

Zerrüttung des Verhältnisses mit Russland

Wenn man die NATO-Länder insgesamt nimmt, war Putins Rede im Bundestag am 25. September 2001 wohl der Höhepunkt der guten Beziehungen. Bald danach verschlechterten sich diese Beziehungen, was Putin in seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007[6] deutlich zum Ausdruck brachte. Für die EU, insbesondere einzelne Länder wie Frankreich und Deutschland, gilt das nicht in gleichem Maße, was Lars Klingbeil rückblickend als „Fehler“ umdeutet.

Blauäugiges Verhältnis zu Russland?

Lars Klingbeil kritisiert: „In Deutschland gab es in den vergangenen Jahren einen von weiten Teilen der Gesellschaft getragenen Konsens, dass enge Beziehungen zu Russland gut für uns sind. Gut für Russland sind. Gut für ein friedliches Europa sind. […] Dabei haben wir allerdings verkannt, dass die Rahmenbedingungen dieser Beziehung längst verändert wurden.“

Spätestens seit der Krim-Annexion und den verhängten Sanktionen kann keine Rede davon sein, dass auch nur eine Regierung eines NATO-Landes diese Veränderungen ignoriert hätte. Es waren bewusste Entscheidungen, zum Beispiel zum Bau von Nord Stream 2 trotz der Annexion der Krim. Sie folgten der Logik, lokale Konflikte zu begrenzen, um die grundsätzliche Verständigung weiterführen zu können. Das hat man auch bei den Abrüstungs- und Rüstungskontroll-Verträgen in den 70er und 80er Jahren so gehalten, als z.B. der sowjetische Krieg in Afghanistan keine Rolle spielte.[7]

Es waren vor allem die USA, die in den letzten Jahren Verträge zur Rüstungsbegrenzung auslaufen ließen und wegen aus ihrer Sicht fehlender Kooperation Russlands kündigten. Angesichts ihres Vertrauens auf ihre Übermacht hatten die USA schon seit längerem an solchen Verträgen grundsätzlich kein Interesse mehr.

Wenn aber nur noch ein Teil des NATO-Bündnisses versucht, gute Beziehungen zu pflegen, kann das als Friedenspolitik nicht funktionieren.

Abhängigkeiten

Lars Klingbeil kritisiert den „einseitige[n] Aufbau der Importinfrastruktur mit Russland“, die aus seiner Sicht „politische“ Blockade von LNG-Terminals und den schleppenden Ausbau erneuerbarer Energien. „Diese Politik war einseitig. Sie war nicht nachhaltig.“

Rhetorisch wirft er hier viele Aspekte zusammen, die seinerzeit auch unter dem Aspekt der Brücken-Technologie auf dem Weg in eine CO2-neutrale Wirtschaft debattiert wurden.

Aber waren es nicht die NATO-Länder und die EU, zu deren Sanktionspaket der möglichst rasche Abbau von Importen aus Russland gehörte? Erinnert sei an dieser Stelle an die Debatten um den sofortigen Stopp der deutschen Gas-Importe aus Russland.

Was aktuell hier als „Abhängigkeiten“ beklagt wird, war gleichzeitig auch ein Teil des Droh- und Sanktions-Potenzials. Und wer kann es dem Sanktionierten verdenken, wenn er die Sanktionen beschleunigt?

Lars Klingbeil schließt: „Wir haben die sicherheitspolitische Dimension unserer Energieversorgung verkannt. Eine solch einseitige Abhängigkeit darf nie wieder passieren.“

Eine „sicherheitspolitische Dimension unserer Energieversorgung“ gab es in den 70er Jahren, als die arabischen Förderländer versuchten, mit einem Boykott die westliche Unterstützung Israels zu beenden. Aber hat Russland (oder auch China) jemals in den letzten 30 Jahren mit irgendeinem vergleichbaren Boykott gedroht?

Letztendlich dient dieser Abhängigkeits-Diskurs nur dazu, die Konzentration auf den eigenen (Groß-)Wirtschaftsraum, EU, Nordamerika und andere, zu begründen. Oder würde es sich irgendein deutsches Regierungsmitglied trauen, eine Reduktion der Chip-Importe aus Taiwan auf ein wirklich „resilientes Niveau“ zu fordern, weil ein chinesischer Überfall auf Taiwan in Europa zu einem akuten Chip-Mangel führen würde?[8]

 

Interpretation der Realität

Lars Klingbeil interpretiert nicht nur die Vergangenheit teilweise neu. Auch sein Blick auf die aktuelle Weltlage, und um die sollte es doch bei einer „grundlegenden Neupositionierung“ gehen, ist, freundlich ausgedrückt, ausgesprochen selektiv.

Block-Konfrontation mit lokalem Konflikt verschleiern

Mit einem vollkommen falschen Bezug auf Egon Bahr meint Lars Klingbeil: „Die Realität heute ist die Zeitenwende. Definiert durch den 24. Februar und den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine.“

Für die aktuelle Unterstützung der Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg mag diese Einstellung gelten. Aber zur Realität gehört auch, dass immer noch (mindestens) die USA und Russland so hochgerüstet sind, dass sie bei einem Einsatz ihrer Atomwaffen das Leben in sehr großen Teilen der Erde weitgehend auslöschen würden. Gerade angesichts der (global gesehen) konventionellen Übermacht der NATO unter der Führung der USA muss es das oberste Ziel „unserer“ (europäischen) Außenpolitik bleiben, dieses Schreckens-Szenario zu vermeiden. Das „Verhindern“ liegt nicht in unserer (NATO-)Macht.

 

Territoriale Integrität und politische Souveränität

Lars Klingbeil meint: „Die territoriale Integrität hat für Putin keinen Wert. […] Die politische Souveränität eines Staates hat für Putin keinen Wert. […] Es gilt die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren.“ Natürlich kann man den russischen Überfall auf die Ukraine nur in aller Schärfe verurteilen. Aber verhalten sich EU- und NATO-Mitglieder grundsätzlich anders?

Sicher, niemand in der EU will Grenzen mit Gewalt verschieben. Aber schon unser NATO-Partner, die Türkei, nimmt es mit der „territorialen Integrität“ und der „politischen Souveränität“ seiner Nachbarstaaten Irak und Syrien nicht so genau. Und wenn er aktuell in Syrien die Kurden (nicht nur die YPG) verfolgt und vertreibt, dient das auch nicht der Durchsetzung von Menschenrechten.

Wie steht es aus Sicht des UK (United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland) um seine „territoriale Integrität“ und „politische Souveränität“, wenn die EU mit allen gewaltfreien Mitteln darum kämpft, dass die EU-Außengrenze zwischen Irland und Nord-Irland offen bleibt, und die EU-Zollgrenze in das britische Territorium zwischen Nord-Irland und dem Rest des UK verlegt wird?

Kann das UK auf Lars Klingbeils Unterstützung vertrauen, wenn sich die Schotten per Referendum zum selbständigen Staat erklären? Deutschland war Vorreiter bei der Anerkennung der Jugoslawischen Teil-Republiken als Staaten, insbesondere Sloweniens und Kroatiens.[9]

Wir haben in der EU viele Erfahrungen im Umgang mit nationalistisch-ethnischen Konflikten, die mit den Separatisten in der Ukraine durchaus vergleichbar sind. Die ETA in Spanien und die IRA in Nord-Irland waren terroristische Organisationen. Die Befriedung war jedes Mal auch mit Zugeständnissen der jeweiligen Regierung und dem Verzicht auf Rechts-Positionen verbunden. Nicht immer ist die Lösung innerhalb der EU konfliktfrei.

 

Ukraine

Der Ukraine-Konflikt war nach der Maidan-Revolution zunächst vor allem ein inner-ukrainischer: Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht auf ihrer Internet-Seite[10] eine Umfrage von 2019, wonach sich 23,2 Prozent der Befragten gegen den gerade in die Verfassung als Ziel aufgenommenen NATO-Beitritt aussprachen, 48,9 Prozent dafür. In den Regionen Osten, Donbass und Süden stellen die Gegner mit jeweils rund 40 Prozent die relative Mehrheit. Bei der Frage EU-Beitritt befürworten 19,3 Prozent den Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion mit relativen Mehrheiten im Donbass und im Süden. Hier gibt es gesamt-gesellschaftlich mit 57 Prozent eine absolute Mehrheit für den EU-Beitritt. Die Umfrage wurde nur in ukrainisch kontrollierten Gebieten, nicht auf der Krim und nicht in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbass durchgeführt.

Die aufständischen Separatisten in Donezk und Luhansk konnten sich also durchaus auf eine regionale politische Spaltung in Grundsatz-Fragen berufen. Und in den Verhandlungen im „Normandie-Format“ wurde dies von Deutschland und Frankreich auch so akzeptiert. (Rückblickend halte ich es für einen Fehler, dass diese Verhandlungen mit Russland und nicht direkt mit Vertretern der Separatisten geführt wurden.) In der Ukraine setzte sich dann eine Mehrheit durch, die die dabei verhandelten Kompromisse, u.a. Wahlen in Donezk und Luhansk unter OSZE-Aufsicht, ablehnte.[11]

Für Lars Klingbeil spielt diese Geschichte keine Rolle, weil er wie alle anderen westlichen Unterstützer an der Fiktion einer einigen Ukraine festhält.

 

Blockbildung

In einer typischen „Haltet-den-Dieb“-Attitüde wirft Lars Klingbeil Russland vor: „Putin will eine neue Blockbildung, das dürfen wir nicht zulassen.“

Aber was propagiert Klingbeil stattdessen?

„Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren.“

„Wir stellen Europa als geopolitischen Akteur auf.“

„Wir bauen neue strategische Partnerschaften auf, um den Multilateralismus zu stärken. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz Staaten wie Indien, Indonesien, Senegal oder Argentinien zum G7-Gipfel eingeladen hat, ist ein wichtiges Zeichen. Diplomatie, Entwicklungspolitik und Handelsabkommen werden für unsere strategischen Partnerschaften eine hohe Bedeutung haben.“

„Die EU muss geopolitisch denken und handeln.“

„Deutschland muss als starkes Land in Europa diese Beitrittsverhandlungen [mit Nord-Mazedonien und Albanien, später mit der Ukraine, Moldau und Georgien] vorantreiben.“

„Wir müssen die EU aufnahmefähig machen. Eine EU der 30 plus Mitgliedstaaten muss handlungs- und entscheidungsfähig bleiben, etwa mit einer Reform hin zu Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheits- oder der Fiskalpolitik.“

„Es ist unsere Aufgabe als Führungsmacht, gemeinsame Interessen auf internationaler Ebene immer wieder herauszuarbeiten.“

„Wir sollten als Deutschland eine tragende Rolle spielen, wenn es darum geht, eine neue Friedensordnung in Europa zu schaffen und eine regelbasierte Ordnung in einer Welt im Umbruch aufrechtzuerhalten.“

Mal abgesehen von der Frage, ob es in naher Zukunft wirklich gelingen wird, die EU mit der Einführung von Mehrheitsentscheidungen zu reformieren, bleibt festzuhalten, dass es schon jetzt mit der Einigkeit in der EU an vielen Stellen hapert. Migration, Umgang mit Flüchtlingen, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit bzw. Pluralismus in den jeweiligen Massenmedien sind nur die prominentesten Beispiele, die mit den geplanten Erweiterungen sicher nicht einfacher werden.

Für Klingbeil scheint es die Frage, wie viel Ungleichheit die EU verträgt, nicht zu geben. Und das Gerede von der „Führungsmacht“ verschleiert, dass die EU „strategisch“ nur als Partner der USA erfolgreich agieren kann.[12] Welche „Friedensordnung“ will er gegen Russland schaffen? Und welche Regeln gelten in seiner Vorstellung von der regelbasierten Ordnung in einer Welt im Umbruch?

Im Endeffekt propagiert Lars Klingbeil ein Ende der sozialdemokratischen Entspannungspolitik und die aktive Einordnung der BRD (und der SPD) in eine neue auf Konkurrenz und Expansion angelegte Blockpolitik unter der Führung der USA, wobei der EU-Erweiterung und strategischen Partnerschaften eine zentrale Rolle zukommt.

 

Fazit

Die Debatte um eine außenpolitische Strategie, die auf den Prinzipien „Gemeinsame Sicherheit“ und „Gemeinsame Entwicklung“ beruht, ist eröffnet und wird mit dem SPD-Parteitag im Dezember sicher nicht beendet sein.

Erschwert wird diese Debatte durch den Umstand, dass die Erfahrungen und Diskussionen aus dem „Kalten Krieg“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion praktisch irrelevant wurden. Für mehr als eine Generation waren beim Blick auf internationale Politik bisher ausschließlich der „Systemwettbewerb“ und die Hoffnung auf die Durchsetzung der Werte „liberaler Demokratien“ dominant. Afghanistan und Libyen werden vielleicht als Niederlagen wahrgenommen. Aber diese Niederlagen sind für die „westliche Welt“ nicht existentiell. Das Erkennen von und der Umgang mit möglicherweise existenzbedrohenden internationalen Konflikten ist deshalb für viele Neuland.

In dieser Situation wird es m.E. entscheidend darauf ankommen, dass die verschiedenen Teile der Friedensbewegung (im weiteren Sinn) ihren Dissens über Gewalt und Waffen hinten anstellen und sich gemeinsam der Frage zuwenden, wie dauerhaft vermieden werden kann, dass sich Staaten und Militärblöcke mit dem entsprechenden Potential gegenseitig vernichten.

Helmut Schmidt formulierte seinerzeit die Frage so: „Wie können konkrete Sicherheitsinteressen in Übereinstimmung gebracht werden mit der Aufgabe den Frieden zu stabilisieren – mit der Aufgabe, eine Friedensordnung in Europa zu erreichen – mit der Aufgabe, eine Normalisierung der Lebensverhältnisse für die beiden deutschen Teile einzuleiten?“[13]

 

Wilfried Schollenberger, Diplom-Soziologe, lebt in Heidelberg und ist dort seit 23 Jahren in der SPD aktiv. Von Anfang an ist er Fördermitglied im DISS.

 

Literatur

Der Spiegel (1983): „Die SPD ist nicht die dritte Weltmacht“, Spiegel online 18.9.1983, https://www.spiegel.de/politik/die-spd-ist-nicht-die-dritte-weltmacht-a-5e8cce58-0002-0001-0000-000014020481

Hirsch, Helga (2010): Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, Deutschlandfunk 14.11.2010, https://www.deutschlandfunk.de/anerkennung-der-oder-neisse-linie-100.html

Klingbeil, Lars (2022): Zeitenwende: Sicherheit und Frieden in Europa, Rede auf einer SPD-Parteiveranstaltung am 19.10.2022 in Berlin, https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/zeitenwende-sicherheit-und-frieden-in-europa/19/10/2022/.

Lill, Felix (2023): Warum die Chipproduktion für Taiwan so wichtig ist, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 15.2.2023,
https://www.rnd.de/politik/taiwan-wieso-sind-mikrochips-die-lebensversicherung-K6CTMNCD4REKPIEFWU3IPIHYT4.html

Pleines, Heiko (14.2.2022): Analyse: Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen: Was ist möglich? Bundeszentrale für politische Bildung, Ukraine-Analysen Nr. 261,
https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-261/346854/analyse-die-umsetzung-der-minsker-vereinbarungen-was-ist-moeglich/#node-content-title-3

Putin, Wladimir (2007): Rede auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz am 10.02.2007, Dokumentationen in der ARD-Mediathek:
https://www.ardmediathek.de/video/dokumentationen/10-02-2007-putin-kritisiert-usa-politik/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMjUyNDU1Mw
Das vollständige Protokoll der Rede auf Deutsch:
http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html

Schmidt, Helmut (1969): Strategie des Gleichgewichts. Deutsche Friedenspolitik und die Weltmächte, Stuttgart: Seewald Verlag 1969.

SIPRI Military Expenditure Database: https://milex.sipri.org/sipri

Soziologische Gruppe Rating (2019): Umfragen zum Beitritt in die EU und in die NATO, Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/292142/umfrage-umfragen-zum-beitritt-in-die-eu-und-in-die-nato/.

Sundhaussen, Holm (2008): Der Zerfall Jugoslawiens und dessen Folgen, APuZ 24.7.2008, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/31042/der-zerfall-jugoslawiens-und-dessen-folgen/.

Teltschik, Horst (2007): Unsichere Welt – Wie bedrohlich ist Putins Russland? NZZ Standpunkte am 2.6.2007, https://www.youtube.com/watch?v=xJSxfx-vKSc

Trägerkreis „Atomwaffen abschaffen“ / IPPNW Deutschland: „Bilaterale Gespräche und Verhandlungen über strategische Atomwaffen“, https://www.atomwaffena-z.info/geschichte/ruestungskontrolle/saltstart

 

[1]        Vgl. sein 1969 erschienenes Buch: Strategie des Gleichgewichts. Die Nato-“Nach-Rüstung“ stand nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der Kooperation und der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten. Umstritten war das damals eskalierte Wettrüsten (Marschflugkörper, Debatte um Neutronenbombe, SDI = Laser-gestützte Raketenabwehr im Weltraum) und die Frage, ob mit diesen Waffen die strukturelle Nicht-Angriffsfähigkeit aufgegeben wurde.

[2]        https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/zeitenwende-sicherheit-und-frieden-in-europa/19/10/2022/.

[3]        Siehe auch Hirsch (2010)

[4]        Schmidt (1969): S. 231

[5]        Siehe auch Der Spiegel 38/1983

[6]        Putins Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz ist in der ARD-Mediathek dokumentiert. Im Juni 2007 ordnet Horst Teltschik in einem Interview mit der NZZ diese Rede und die Bestrebungen der USA zur Aufnahme der Ukraine in die NATO kritisch ein.

[7]        Besonders interessant ist hier der 1979 unterzeichnete SALT-II-Vertrag: Der Vertrag wurde von den USA mit Hinweis auf die Stationierung sowjetischer Truppen auf Kuba nicht ratifiziert. Trotzdem erklärten sich Jimmy Carter und auch sein Nachfolger, Ronald Reagan, dazu bereit, die Vertragsrichtlinien bezüglich der Rüstungsbeschränkungen einzuhalten und taten dies auch bis zum planmäßigen Auslaufen des Vertrags. Vgl. Trägerkreis „Atomwaffen abschaffen“ / IPPNW Deutschland.

[8]        Siehe auch Lill (2023)

[9]        Vgl. Sundhausen (2008): „[…] im September 1991 entschloss sich die deutsche Regierung […] im Alleingang zur Anerkennung von Slowenien und Kroatien, […] Tatsache ist, dass Kroatien zu diesem Zeitpunkt die europäischen Kriterien für eine völkerrechtliche Anerkennung nicht erfüllte.“

[10]       Soziologische Gruppe Rating (2019)

[11]       Pleines (2022) berichtet (im Kapitel „Politische Lösung“) von erfolgreichen (gewalttätigen) Protesten gegen die 2015 im Parlament beratene Verfassungsreform zur Umsetzung von Minsk 2.

[12]       Ganz nebenbei: 1. Wenn die EU von „Führung“ profitiert hat, dann vor allem vom „deutsch-französischen Tandem“. Nur in der engen Abstimmung mit unseren Nachbarn war Europapolitik nachhaltig erfolgreich. Auch diesen Aspekt könnte man in seiner Rede vermissen. 2. Die Politik des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt erfolgte in enger Abstimmung mit den USA und entsprach den Interessen beider Großmächte, die eine Wiederholung der Kuba-Krise unbedingt verhindern wollten. „Führung“ und „Verantwortung“ praktizierten die Genossen vor allem nach innen, gegen CDU/CSU.

[13]       Schmidt (1969) S. 12