Blog zum Migrationsdiskurs #4 vom 12.11.2025

Die Diskurswerkstatt beobachtet seit langem kontinuierlich den deutschen Migrationsdiskurs. Dazu stellen Praktikant*innen jeweils alle aktuellen Kommentare aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Tageszeitung (taz) zusammen. Isolde Aigner wählt daraus drei bis fünf diskursanalytisch repräsentative und relevante Texte aus, die wir diskursanalytisch besprechen. Dabei achten wir besonders auf wichtige Aussagen (im Folgenden durch Kursivierung kenntlich gemacht), Verschiebungen im Sagbarkeitsfeld, ausgrenzende Effekte und Diskursstrategien, die diesen entgegenwirken.

Die Ergebnisse sind in etliche Studien des DISS eingeflossen. Seit August 2025 verschriftlichen wir zu jeder Sitzung ein bis zwei wichtige Beobachtungen in Form des folgenden Blogs. Meist handelt es sich dabei um Beobachtungen, die wir schon länger machen und die sich in den Texten des Monats gut festmachen lassen. Diese werden aktuell nach den Sitzungen auf unserer Homepage veröffentlicht. Im Folgenden finden sich die ersten Blogeinträge abgedruckt. Wer noch mehr an unserer Arbeit teilhaben will, ist herzlich zur Diskurswerkstatt eingeladen. Auch ein Blick auf weitere Texte des AK Migration auf unserer Homepage lohnt.

 

 

Blog zum Migrationsdiskurs der Diskurswerkstatt im DISS

Blogeintrag #4 vom 12.11.2025: Migrationsdiskurs Oktober 2025

Von der Diskurswerkstatt & Benno Nothardt

 

Friedrich Merz‘ Stadtbild-Äußerung provoziert linke Antworten
Während wir im letzten Monat eine voranschreitende Rechtsverschiebung im Migrationsdiskurs skizzierten, dürfen wir uns diesen Monat freuen, dass Linke und Mitte im hegemonialen Diskurs Friedrich Merz hetzerische Stadtbildaussage als Provokation wahrnahmen und mit deutlich linken Positionen reagierten.

taz: Migration nach ökonomischem Nutzen ist rassistisch

In der taz kommentiert Pauline Jäckels am 24.10.2025 unter der Überschrift „Nicht minder rassistisch“ Merz. Am 14.10.2025 sagte dieser, „wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem“. Jäckels bezeichnet das als „Dog Whistle“, die an „rechte Wähler*innen“ gerichtet sei, was auf die Aussage verweist, dass der Rassismus der Mitte als Ursache für das Erstarken der extremen Rechten wirke.

Am 22.10. erklärte Merz dann, dass Migration unverzichtbar für die Wirtschaft sei und er Probleme mit denjenigen habe, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus hätten, nicht arbeiteten und sich „auch nicht an unsere Regeln“ hielten. Jäckel erklärt, dass die Unterscheidung in gute und schlechte Ausländer*innen „nicht minder rassistisch“ sei, und spricht so den Rassismus der Mitte an. Damit problematisiert sie eine drohende binäre Reduktion auf repressive Fluchtabwehr ohne Einschränkungen vs. Migration als ökonomischer Nutzen, indem sie beide Aussagen als rassistisch bewertet.


SZ: migrantische Diskursposition und körperliche Auswirkungen von Rassismus
Die SZ lässt am 25.10.2025 die iranisch-deutsche Schriftstellerin Nava Ebrahimi in einem Gastkommentar mit dem Titel „Kanzlerworte“ zu Wort kommen. Hier wird deutlich, welchen Unterschied es macht, ob Zeitungen für Migrant*innen sprechen oder diese selbst zu Wort kommen lassen.

Ähnlich wie Jäckels betrachtet Ebrahimi die von Merz unpräzise benannten „Probleme im Stadtbild“ als Angebot an den „antidemokratischen und autoritär, völkisch denkenden Teil der Bevölkerung“ und kritisiert, dass durch seine spätere Erklärung „Migrantinnen und Migranten von ‚erwünscht‘ bis ‚unerwünscht‘“ bzw. „‚nützlich bis nutzlos‘“ hierarchisiert würden.

Während Jäckel das aber nur analytisch erklärt, beschreibt Ebrahimi die kollektivsymbolisch und körperlich spürbaren Effekte von Worten: Sie „sind mächtig, sie bleiben im Raum, verändern ihn, vermögen sogar, aus Brandmauern leicht entflammbare Papptrennwände zu machen“. Die kollektivsymbolische ‚Brandmauer‘ als Grenze des ‚Wir‘ gegen das bedrohliche ‚Außen‘ der ‚extremen Rechten‘ droht also, beschädigt zu werden. Ebrahimi spürt analog: „Da bröckelt etwas in mir weg“. Ihr ‚Wir‘ ist dabei eines, das Migrant*innen einbezieht, während es Antidemokrat*innen ausschließt.

Interessant ist, dass Ebrahimi ausdrücklich betont, diese symbolische Bedrohung auch ganz unmetaphorisch körperlich zu spüren: Sie spüre „das Hier-nicht-gewollt-Sein“, ihr Puls steige und Unruhe steige in ihr auf. Andere würden durch den erzeugten Stress sogar krank, wie die Studie „Du lachst ja gar nicht mehr“ der Gesundheitswissenschaftlerin Mahssa Behdjatpour zeige.

Ebrahimi zeigt hier, wie Kollektivsymbolik funktioniert: Körper und politisches System fallen in der Innen-Grenze-Außen-Topik der Kollektivsymbolik zusammen. Und das kann körperliche Effekte haben. Ebrahimi erklärt damit, wie rassistische Aussagen auf ihre Opfer wirken können.

SZ und taz zeigen, dass eine grundlegende Kritik am Rassismus der Mitte im hegemonialen Diskurs sagbar ist. Ein blinder Fleck bleibt aber: Das Verhältnis der Mitte zur extremen Rechten wird immer so interpretiert, dass die extreme Rechte die Mitte vor sich hertreibe oder die Mitte durch ihr Verhalten die extreme Rechte stärke. Die Diskursstrategie, dass der Rassismus der Mitte die extreme Rechte nutzt, um repressive Migrationspolitik durchzusetzen, bleibt aber auch hier unsagbar. Und das, obwohl die CDU/CSU bereits am 29.1.2025 die AfD nutzte, um ihren Entschließungsantrag für eine schärfere Migrationspolitik gegen eine Mehrheit der anderen Parteien durch den Bundestag zu bringen.

Dieser Text ist auch veröffentlicht im DISS-Journal #50 S. 55-56.