Blog zum Migrationsdiskurs #3 vom 1.10.2025

Die Diskurswerkstatt beobachtet seit langem kontinuierlich den deutschen Migrationsdiskurs. Dazu stellen Praktikant*innen jeweils alle aktuellen Kommentare aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Tageszeitung (taz) zusammen. Isolde Aigner wählt daraus drei bis fünf diskursanalytisch repräsentative und relevante Texte aus, die wir diskursanalytisch besprechen. Dabei achten wir besonders auf wichtige Aussagen (im Folgenden durch Kursivierung kenntlich gemacht), Verschiebungen im Sagbarkeitsfeld, ausgrenzende Effekte und Diskursstrategien, die diesen entgegenwirken.

Die Ergebnisse sind in etliche Studien des DISS eingeflossen. Seit August 2025 verschriftlichen wir zu jeder Sitzung ein bis zwei wichtige Beobachtungen in Form des folgenden Blogs. Meist handelt es sich dabei um Beobachtungen, die wir schon länger machen und die sich in den Texten des Monats gut festmachen lassen. Diese werden aktuell nach den Sitzungen auf unserer Homepage veröffentlicht. Im Folgenden finden sich die ersten Blogeinträge abgedruckt. Wer noch mehr an unserer Arbeit teilhaben will, ist herzlich zur Diskurswerkstatt eingeladen. Auch ein Blick auf weitere Texte des AK Migration auf unserer Homepage lohnt.

 

 

Blog zum Migrationsdiskurs der Diskurswerkstatt im DISS

Blogeintrag #3 vom 1.10.2025: Migrationsdiskurs September 2025

Von der Diskurswerkstatt & Benno Nothardt

 

Formale Abgrenzung von der extremen Rechten bei gleichzeitiger Annäherung an deren Positionen

Im September zeigte sich sehr deutlich ein Trend, den wir vor allem in der FAZ schon länger beobachten: Man grenzt sich von extrem rechten Parteien eindeutig ab, insbesondere von der AfD, nähert sich aber zugleich deren Positionen an.

FAZ: Etablierung der extremen Rechten als notwendiges Korrektiv sowie des Wortes „Remigration“

In dem Leitartikel „Die Einwanderungslast bleibt“ von Jasper von Altenbockum in der FAZ vom 9.9.2025 wird Menschen durch das Kollektivsymbol ‚Last‘ schon im Titel der Subjektstatus entzogen und Migration als Problem dargestellt, das es ‚einzudämmen‘ gelte. Entsprechend lobt die FAZ die EU-Politik für ihre erfolgreiche Repression und macht für diesen „politischen Bewusstseinswandel“ den „Druck der Rechtspopulisten“ verantwortlich. Durch die Bezeichnung als „Rechtspopulisten“ grenzt sie sich formal von diesen ab, gesteht ihnen aber gleichzeitig eine positive Wirkung zu. Damit rekurriert sie auf die Aussage, dass die extreme Rechte als notwendiges Korrektiv der Politik wirke.

Altenbockum geht aber noch einen Schritt weiter und fragt, warum in Bezug auf Syrien nicht möglich sei, „was im Falle Bosnien-Herzegowinas vor Jahren möglich war“.[1] Die als rhetorische Frage verpackte Antwort lautet: „Weil sich die Politik das Wort ‚Remigration‘ hat rauben lassen?“ Damit reiht er sich ein in die Versuche der FAZ, das von der extremen Rechten als Kampfbegriff verwendete Wort im hegemonialen Diskurs zu etablieren. Dabei beklagt er den Raub von etwas, das die FAZ früher gar nicht besessen hat. Im Zehnjahreszeitraum vom 1.1.1992 bis zum 31.12.2001 werden das Wort „Remigration“ und seine Ableitungen „Remigrant“ und „remigrieren“ in der FAZ (Print, einschließlich FAS) 50-mal verwendet, allerdings meist in Bezug auf die freiwillige Rückkehr von Exilant*innen nach Deutschland nach dem Sieg über den Nationalsozialismus sowie auf die freiwillige Rückkehr von Pol*innen nach der Befreiung Polens vom Stalinismus durch den Widerstand der Gewerkschaft Solidarność. Lediglich 3-mal in diesen zehn Jahren wurde das Wort „Remigration“ in Bezug auf Versuche der deutschen Politik verwendet, Menschen zur Rückkehr in ihre ehemalige Heimat zu bewegen, und zwar ausschließlich durch „Anreize“ (FAZ 17.6.1995, S. 13), Hilfe für Rückkehrer*innen in Griechenland (FAZ 21.4.1994, S. 14) und „Rückkehrprämien“ (FAZ 10.5.2001, S. 4).

In Teilen der extremen Rechten wird unter „Remigration“ die Deportation von deutschen Staatsbürger*innen verstanden, die nicht in ein völkisches Konzept von Deutschland oder Europa passen. So weit geht die FAZ nicht. Sie verwendet den Begriff aber auch nicht in der ursprünglichen wissenschaftlichen Bedeutung einer meist freiwilligen Rückkehr wie Ende des letzten Jahrtausends, sondern koppelt ihn mit dem Wunsch nach einer noch restriktiveren Abschottungspolitik. Damit macht sie den Begriff hoffähig, mit dem die AfD versucht, den Schritt zu machen, weg von dem Rassismus der Mitte und einer restriktiven Abschottungspolitik hin zu extrem rechten völkischen Konzepten und Deportationen von allen, die nicht in diese passen.

Süddeutsche Zeitung: Verständnis für rassistische Gefühle der Mitte und Aufgabe von moralischen Ansprüchen

Während die FAZ sich der extremen Rechten einen Schritt annähert, übernimmt die SZ rassistische Positionen der Mitte.

In dem Leitartikel „Kontrollverlust“ von Josef Kelnberger vom 4.9.2025 beschreibt die SZ eine Position, die sich von „Rechtspopulisten in Europa“ abgrenzt und Sympathie für die „Flüchtlinge“ zeigt, die 2015 „nach Europa kamen und von denen viele Europa heute bereichern“. Gleichzeitig beschreibt die SZ aber „bei vielen Menschen in Europa ein Gefühl der Überforderung, des Kontrollverlustes, ja des Identitätsverlustes“.

Die SZ kritisiert aber leider nicht, dass hier ausschließlich die Gefühle einer sich als alteingesessen empfindenden Gruppe gemeint sind, die ihre Wir-Identität aus einer Abgrenzung gegen alle anderen Menschen ableitet und diese kontrollieren will. Im Gegenteil, die SZ eignet sich diese auf Abschottung zielende Identität an und lobt, dass die „deutsche Regierung unter Friedrich Merz“ gerade dabei sei, die „spärlichen Reste von Angela Merkels Mentalität des ‚Wir schaffen das‘ zu tilgen“. Merkel hingegen kritisiert die SZ dafür, dass sie 2015 versucht habe, „dem Rest Europas seine Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen und der offenen Herzen aufzuzwingen“.

Kollektivsymbolisch stellt sich die SZ auf die Seite eines ‚Wir‘, das sich durch identitäre Abgrenzung gegen andere bestimmt und sich durch Abschottung statt Offenheit auszeichnet. In der Praxis fordert sie eine neue Asylpolitik, die sich nicht an hohen moralischen Ansprüchen orientieren solle, sondern an ökonomischem Nutzen von Migration sowie der „Pflicht, geflüchteten Menschen in der Not zu helfen“, also einer verbleibenden Minimalmoral.

Auffällig finden wir in der Diskurswerkstatt auch, dass in der SZ im Rückblick Merkels Politik zu einer vorbildlichen Moralität verklärt wird und ihr flexibel-normalistisches Fluchtmanagement einschließlich Deals mit Transitländern unsichtbar wird. (Vgl. Blog #2 vom 9.9.2025, Kapitel zur Kritik an Merkel in der taz.)

taz: verklärter Rückblick und Hoffnung auf Multikultur

Ähnlich verklärt wie der Rückblick der SZ auf Merkels vermeintlich uneingeschränkte Moralität erinnert sich Wolfgang Sachsenröder in der taz vom 27.9.2025 an eine nicht näher datierte „historisch fast homogene[]“ Gesellschaft. Allerdings macht er schon im Titel deutlich, dass er ein Zurück für unmöglich hält: „Multikulti wird zur Norm werden“. Stattdessen skizziert er, ausgehend von Beispielen anderer Länder wie Singapur, einen Weg zu einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft. Diese Position ist eine angenehme Alternative zu den Restriktionswünschen von SZ und FAZ.

Allerdings bleiben zwei Wermutstropfen: Ausgangspunkt von Sachsenröders Argumentation ist wie in der SZ der ökonomische Nutzen von Migration. Die Utopie einer freien Welt ohne Grenzen für eine freie Menschheit ist auch hier unsagbar. Außerdem spricht der Kommentar ausschließlich die Diskursposition weißer Europäer*innen an, die „Angst vor Überfremdung und Kriminalität“ hätten, und nicht Diskurspositionen von Menschen, die unter der repressiven Migrationspolitik leiden oder Angst vor Angriffen durch extrem Rechte haben. In anderen Artikeln lässt die taz aber durchaus auch solche Diskurspositionen zu Wort kommen.

 

Literatur

Oltmer, Jochen (20.1.2023): „Geduldet“ und „rückgeführt“, Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de/themen/migration-integration/regionalprofile/517151/geduldet-und-rueckgefuehrt

 

1 Nach Ende des Bosnienkrieges wurde Druck auf Kriegsflüchtlinge ausgeübt. „Ein kleinerer Teil der Schutzsuchenden wurde abgeschoben. Ein größerer Teil sah sich aufgrund des fehlenden Aufenthaltsstatus und der unmittelbaren Bedrohung durch eine Abschiebung genötigt, ‚freiwillig‘ auszureisen.“ (Oltmer 20.1.2023). [zurück]

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Dieser Text ist auch veröffentlicht im DISS-Journal #50 S. 54-55.