Blog zum Migrationsdiskurs #2 vom 9.9.2025

Die Diskurswerkstatt beobachtet seit langem kontinuierlich den deutschen Migrationsdiskurs. Dazu stellen Praktikant*innen jeweils alle aktuellen Kommentare aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Tageszeitung (taz) zusammen. Isolde Aigner wählt daraus drei bis fünf diskursanalytisch repräsentative und relevante Texte aus, die wir diskursanalytisch besprechen. Dabei achten wir besonders auf wichtige Aussagen (im Folgenden durch Kursivierung kenntlich gemacht), Verschiebungen im Sagbarkeitsfeld, ausgrenzende Effekte und Diskursstrategien, die diesen entgegenwirken.

Die Ergebnisse sind in etliche Studien des DISS eingeflossen. Seit August 2025 verschriftlichen wir zu jeder Sitzung ein bis zwei wichtige Beobachtungen in Form des folgenden Blogs. Meist handelt es sich dabei um Beobachtungen, die wir schon länger machen und die sich in den Texten des Monats gut festmachen lassen. Diese werden aktuell nach den Sitzungen auf unserer Homepage veröffentlicht. Im Folgenden finden sich die ersten Blogeinträge abgedruckt. Wer noch mehr an unserer Arbeit teilhaben will, ist herzlich zur Diskurswerkstatt eingeladen. Auch ein Blick auf weitere Texte des AK Migration auf unserer Homepage lohnt.

Blog zum Migrationsdiskurs der Diskurswerkstatt im DISS Blogeintrag #2 vom 9.9.2025: Migrationsdiskurs Mitte Juli bis Ende August 2025

Von der Diskurswerkstatt & Benno Nothardt

„Wir schaffen das“: Merkel vs. Merz

Am 31. August 2025 jährte sich Merkels berühmter Ausspruch „Wir schaffen das“ zum zehnten Mal. Das nahmen taz, SZ und FAZ zum Anlass für Kommentare. Sie interessieren sich dabei weniger für den Satz selbst oder einen Rückblick auf den Sommer der Flucht 2015, sondern nehmen das Jubiläum als Anlass, um ihre jeweiligen Positionen zum Migrationsdiskurs pointiert darzustellen. Gemeinsam ist allen dreien, dass sie Merz und Merkel als Gegenspieler*innen kontrastieren. Außerdem zeichnen alle drei Zeitungen ein sehr düsteres Bild der aktuellen Situation, aber auf jeweils ganz unterschiedliche Art.

FAZ: liberale Migrationspolitik als Ursache für das Erstarken der extremen Rechten

Berthold Kohler interpretiert in seinem Leitartikel in der FAZ vom 26.8.2025 Merkels Ausspruch so, als habe sie gefordert, „jene, die mit Recht bei uns um Asyl baten“, gut zu integrieren und die anderen wieder abzuschieben. Von Letzterem war damals gar nicht die Rede. So wird Merkels Position der der FAZ angenähert. Kohler nähert sich wiederum ihr an, indem er Migration als ökonomischen Nutzen als richtiges Ziel von Merkels Politik bewertet. Das ist eine Annäherung, da in der FAZ teils auch eine konsequent repressive Fluchtabwehr unabhängig von ökonomischen Interessen gefordert wird (siehe Blog #1 vom 30.7.2025).

Trotzdem konstatiert der Leitartikel Merkel ein völliges Scheitern und benennt Migration als Ursache von Kriminalität, Sozialleistungsmissbrauch und Problemen in Schulen, was eine Ethnisierung dieser drei Bereiche reproduziert. Dieses Scheitern wird als Ursache für das Erstarken der AfD benannt und Merkel persönlich dafür verantwortlich gemacht.

Damit rekurriert der Text auf die Aussage, dass liberale Migrationspolitik als Ursache für das Erstarken der extremen Rechten wirke. Diese Aussage beobachtet das DISS schon seit dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen im August 1992. Damals interpretierten Teile der Politik die Gewalt als eine Folge einer zu liberalen Asylpolitik und begründeten damit eine Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. Die Folge war auch damals eine Stärkung der extremen Rechten: Drei Tage nach der Änderung von § 16 im Grundgesetz legten Rechtsextreme am 29. Mai 1993 einen Brand im Haus der Familie Genç in Solingen und ermordeten so Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç.

Durch die Erklärung, liberale Migrationspolitik sei die Ursache für das Erstarken der extremen Rechten, wird die Aussage, dass der Rassismus der Mitte als Ursache für das Erstarken der extremen Rechten wirkt, tendenziell unsagbar gemacht. Ebenso wird ausgeblendet, dass rassistische Diskurse fest in der Mitte der Gesellschaft verankert sind. (Siehe dazu ausführlicher Nothardt 2024.)  

taz und SZ: Ablehnung einer weiter verschärften restriktiven Migrationspolitik

Taz und SZ drucken Kommentare, die das Leid der Geflüchteten zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation nehmen und sich positiv auf Merkels Ausspruch beziehen, während sie die verschärfte repressive Migrationspolitik unter Friedrich Merz ablehnen.

Judith Winter lehnt es in der SZ vom 23.8.2025 ab, „wenn die Mitte radikal nach rechts schwenkt“. Sie stellt sich damit ausdrücklich gegen die Aussage, dass liberale Migrationspolitik Ursache für das Erstarken der extremen Rechten sei, und fragt rhetorisch, ob nicht das Gegenteil wahr sei. Merz‘ restriktiver Migrationspolitik stellt sie Merkel als moralische Instanz entgegen, lobt diese aber gleichzeitig für den Türkeideal von 2016. Diesen sieht sie offensichtlich als Vorbild für eine Migrationspolitik, die moralische Integrität mit Kontrolle verbindet. Von Merkels „grenzenloser Humanität und Hilfsbereitschaft“, die sie vorher lobt, bleibt am Ende des Kommentars aber nur noch die Feststellung übrig, dass solche Abkommen „rechtsstaatlich in Ordnung“ seien. Damit passt der Artikel in einen Trend, den wir seit einiger Zeit in der SZ beobachten: Argumentierte diese vorher stark ethisch-moralisch, beschränkte sie sich in den letzten Jahren zunehmend auf die Forderung, rechtliche Normen zu erfüllen. Und damit werden eigentlich unmoralische Deals vertretbar, wenn sie legal sind.

Auch Christian Jakob thematisiert am 16.8.2025 den „EU-Türkei-Deal von 2016“. Diesen bewertet er aber nicht als gute Lösung, sondern kritisiert ihn als Blaupause weiterer Deals, die Staaten erpressbar machen würden. Außerdem seien die eigentlichen Opfer der Deals die Migrant*innen. Zusätzlich verweist er darauf, dass Migration „elastisch und kaum zu kontrollieren“ sei und Repression vor allem der Rüstungsindustrie und dem „grenzschutz-industriellen Komplex“ nutze. Eine so klare Kritik an schmutzigen Deals und kapitalistischem Gewinnstreben als Ursache für restriktive Migrationspolitik ist im hegemonialen Migrationsdiskurs selten.

 

Literatur

Nothardt, Benno (20.12.2024): Strafen und Abschieben. Wie die Bild-Zeitung 2024 den Notstand im Migrationsdiskurs herbeischrieb. Online veröffentlicht bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung: https://www.rosalux.de/news/id/52902.

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Dieser Text ist auch veröffentlicht im DISS-Journal #50 S. 53-54.