Die Diskurswerkstatt beobachtet seit langem kontinuierlich den deutschen Migrationsdiskurs. Dazu stellen Praktikant*innen jeweils alle aktuellen Kommentare aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Tageszeitung (taz) zusammen. Isolde Aigner wählt daraus drei bis fünf diskursanalytisch repräsentative und relevante Texte aus, die wir diskursanalytisch besprechen. Dabei achten wir besonders auf wichtige Aussagen (im Folgenden durch Kursivierung kenntlich gemacht), Verschiebungen im Sagbarkeitsfeld, ausgrenzende Effekte und Diskursstrategien, die diesen entgegenwirken.
Die Ergebnisse sind in etliche Studien des DISS eingeflossen. Seit August 2025 verschriftlichen wir zu jeder Sitzung ein bis zwei wichtige Beobachtungen in Form des folgenden Blogs. Meist handelt es sich dabei um Beobachtungen, die wir schon länger machen und die sich in den Texten des Monats gut festmachen lassen. Diese werden aktuell nach den Sitzungen auf unserer Homepage veröffentlicht. Im Folgenden finden sich die ersten Blogeinträge abgedruckt. Wer noch mehr an unserer Arbeit teilhaben will, ist herzlich zur Diskurswerkstatt eingeladen. Auch ein Blick auf weitere Texte des AK Migration auf unserer Homepage lohnt.
Blog zum Migrationsdiskurs der Diskurswerkstatt im DISS
Blogeintrag #1 vom 30.7.2025: Migrationsdiskurs Anfang Juni bis Mitte Juli 2025
Von der Diskurswerkstatt & Benno Nothardt
Binäre Reduktion: Migration als ökonomischer Nutzen vs. repressive Fluchtabwehr ohne Einschränkungen
Diskursgeschichte: Die Studie „Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung“ (Jäger/Wamper 2017) beschreibt das Kippen von der Willkommenskultur im Sommer der Flucht 2015 zu einer Notstandsstimmung. Mit der Notstandstimmung wurde eine repressive Fluchtabwehr durchgesetzt, in Form der Asylpakete I und II sowie des Türkeideals und Libyendeals im Herbst 2015 und 2016 (vgl. ebd., S. 96 & 156 sowie Friede u. a. 2022, S. 6 & 17). Dabei verengte sich das differenzierte Sagbarkeitsfeld des Sommers 2015 (vgl. Jäger/Wamper 2017, S. 106) hin zur „binären Frage nach Obergrenzen oder Kontingenten“ (ebd., S. 106 sowie Jäger/Wamper 2017b, S. 76 f.) und ließ nur noch die Wahl „zwischen einer neoliberalen, auf Verwertbarkeit setzenden Position mit flexibler Migrationsabwehr“, für die Angela Merkel stand, und „einer kulturalistischen Denkart mit starren Grenzziehungen“ ihres Gegenspielers Horst Seehofer (CSU). Eine ähnliche, aber weiterreichende binäre Reduktion beschreibt Nancy Fraser in Bezug auf den Präsidentschaftswahlkampf in den USA 2016 zwischen Hillary Clinton und Donald Trump als für die Linke „unmögliche Wahl zwischen progressivem Neoliberalismus und reaktionärem Populismus“ (Fraser 2017, S. 75).
Solche binären Reduktionen sind verbreitete Diskursstrategien, die das Sagbarkeitsfeld einschränken. Im aktuellen Fluchtdiskurs deutet sich wieder eine ähnliche binäre Reduktion wie 2016 an. Das ergibt sich zumindest aus der Lektüre von FAZ und SZ.
Im Leitartikel[1] der SZ von Kathrin Werner vom 11.6.2025 wird Einwanderung nach Deutschland als „etwas Gutes“ gelobt, ohne welches „die ökonomische Stabilität dieses Landes“ gefährdet werde. Migrantinnen werden als jung, dynamisch und besonders innovative Gründerinnen sowie als Rettung vor dem Kollaps des Rentensystems gelobt. Menschen mit Migrationsgeschichte belegt sie mit dem Kollektivsymbol „Wachstumsmotor“ und rückt sie damit mitten ins ‚Innen‘ und ‚Wir‘ des synchronen Systems kollektiver Symbole (Sysykoll).[2]
Dem entgegen steht die Position der FAZ, die Nikolas Busse (verantwortlicher Redakteur für Außenpolitik) am 11.6.2025 formuliert: Dieser lobt die Migrationspolitik Donald Trumps und hält dessen restriktives Vorgehen und Ausweisungen für notwendig. Ökonomische Gegenargumente weist er zurück: „Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass diese Leute ein Rückgrat der amerikanischen Volkswirtschaft sind.“ Die Notwendigkeit einer vergleichbar repressiven Migrationspolitik in Deutschland begründet er mit der in der FAZ schon lange wichtigen Aussage, eine liberale Migrationspolitik sei eine Ursache für das Erstarken der extremen Rechten, also für den Zuspruch für „Trump oder die AfD“. Friedrich Merz lobt er ausdrücklich dafür, eine entsprechende „Wende in der Asylpolitik“ vollziehen zu wollen.
Ob sich diese binäre Reduktion des Diskurses auf Migration nach ökonomischem Nutzen vs. radikale Migrationsabwehr ohne Einschränkungen in Teilen des mediopolitischen Diskurses verfestigt, muss sich noch zeigen, allzumal die taz derzeit auch deutlich kritischere Stimmen zu Wort kommen lässt als SZ und FAZ.
Deutlich zeigt sich schon jetzt eine Rechtsverschiebung der Positionen der rechtskonservativen FAZ und der linksliberalen SZ. Während die SZ bis 2024 für eine tendenziell migrationsfreundliche Politik aus moralischen Motiven stand und die FAZ für eine am ökonomischen Nutzen orientierte (vgl. z. B. Kalchschmidt u. a. 2022), setzt die FAZ jetzt „die Grenzen gesellschaftlicher Akzeptanz“ über den ökonomischen Nutzen und die SZ übernimmt die Orientierung am ökonomischen Nutzen. Allerdings erwähnt auch die FAZ weiterhin die „materielle“ Situation und die SZ moralische Gründe, zumindest am Rande.
Top-down: Medien als Politikberatung, Politik als Erzieherin der Bevölkerung
Auffällig ist auch, dass die Kommentare beider Zeitungen stark top-down argumentieren, was insgesamt typisch für den mediopolitischen Diskurs ist. Beide Kommentare richten ihre Appelle nicht etwa an die Leserinnen oder die Bevölkerung als mögliche Akteurinnen für Veränderung, sondern an die institutionalisierte Politik und insbesondere die Regierung. Diese soll dann wiederum top-down die geforderte Politik gegenüber der Bevölkerung umsetzen. In der SZ schreibt Kathrin Werner dies explizit in Bezug auf die ökonomische Notwendigkeit von Migration: „Es ist Aufgabe der Politik, den Menschen das zu erklären“ (SZ, 11.6.2025). In der FAZ spricht Busse ausschließlich Regierungschefinnen und Parteien als Akteurinnen an, insbesondere Friedrich Merz (vgl. FAZ, 11.6.2025). Diese werden aufgefordert, die „mentale [Überforderung] vieler Bürger“ durch eine liberale Migrationspolitik zu respektieren. In anderen Worten: Die Politik soll stark werden und die schwache und schutzbedürftige deutsche Bevölkerung (wie eine Erzieherin) beschützen.
Literatur
Fraser, Nancy (2017): Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus. Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2017, www.blaetter.de/download/pdf/27653
Friede, Judith; Kalchschmidt, Louis; Marx, Fabian; Mayer, Anna-Maria; Nothardt, Benno; Slat, Milan; Sydow, Christian (2022): Deutsche Rettung? Eine Kritische Diskursanalyse des Fluchtdiskurses um Carola Rackete und Moria. Münster: Unrast. [= Edition DISS Bd. 47]. Infos
Jäger, Margarete / Wamper, Regina (Hg.) 2017: Von der Willkommenskultur zur Notstandsstimmung. Der Fluchtdiskurs in deutschen Medien 2015 und 2016. Online veröffentlicht: https://diss-duisburg.de/wp-content/uploads/2017/02/DISS-2017-Von-der-Willkommenskultur-zur-Notstandsstimmung.pdf
Jäger, Margarete / Wamper, Regina 2017b: Der Rechtsruck der Mitte im Fluchtdiskurs 2015. In Aigner, Isolde u. A.: Autoritäre Zuspitzung. Rechtsruck in Europa, Münster: Unrast, 2017, 73-80.
Jäger, Siegfried (†) / Jäger, Margarete / Wamper, Regina / Nothardt, Benno (2024): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 8. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Unrast-Verlag. Infos
Kalchschmidt, Louis; Mayer, Anna-Maria; Nothardt, Benno; Perna, Carmen; Slat, Milan; Sydow, Christian; Topsir, Zeynep; Tugra, Ebru 2022: ‚Offenkundig hilft es sich leichter, wenn es um Nachbarn geht. Der Fluchtdiskurs zur Ukraine. In: DISS-Journal und kultuRRevolution, Juli 2022: Sonderheft für eine andere Zeitenwende, S. 30-33. Auch online verfügbar: HTML | PDF
1 Leitartikel sind Kommentare, die die politische Ausrichtung der Redaktion reflektieren und damit deren aktuelle Linie festlegen. Nicht zu verwechseln sind Leitartikel mit dem Hauptartikel auf der Titelseite, den man Aufmacher nennt. [zurück]
2 Unter Kollektivsymbolik versteht Jürgen Link die Gesamtheit der Bildlichkeit einer Kultur, die im kollektiven Bewusstsein verankert ist. Sie bildet ein synchrones System kollektiver Symbole (Sysykoll). Dieses wird durch eine grundlegende Topik strukturiert, die die Kollektivsymbole in ein meist bedrohliches ‚Außen‘, eine ‚Grenze‘ und ein meist positiv bewertetes ‚Innen‘ unterteilt. Die Füllungen dieser Topik sind diskursiv umkämpft. Wenn Werner Migrant*innen mit dem Kollektivsymbol „Wachstumsmotor“ belegt, schließt sie sie damit in das ‚Innen‘ bzw. ‚Wir‘ ein. In ausgrenzenden Texten hingegen wird Migration beispielsweise als ‚Flüchtlingsfluten‘ (Außen) verbildlicht, gegen die ‚wir‘ (‚Innen‘) uns ‚ab-schotten‘ müssen (Grenze). (Zum Weiterlesen: Jäger u.a. 2024.) [zurück]

