Linien ziehen, aber wie?

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Eindrücke vom Fachtag zum pädagogischen Umgang mit Reaktionen in Schule und Pädagogik im Rahmen des Projekts „Kompetenznetzwerk Antisemitismus“
der Bildungsstätte Anne Frank am 12. Dezember 2023

Von Martin Gerner

Zum Thema Nahost-Krieg gehen die Emotionen seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres nach wie vor auch in Schulen hoch. Nicht nur bei Schülern und Schülerinnen. Auch Lehrer:innen fühlen sich nach Umfragen und eigenen Angaben emotional und pädagogisch nicht selten überfordert. Zumal oft das nötige Fach- und Sachwissen fehlt. Hinzukommen Vorurteile, Diskriminierung, Hassgefühle und Hate Speech unter Schüler:innen. Islamisch-palästinensische Fluchtgeschichten, jüdische Holocaust-Erfahrungen und das Unwissen einer verunsicherten Mehrheit treffen dabei aufeinander.

Welche Erfahrungen machen Lehrer:innen und Pädagog:innen zum Thema 7. Oktober an den Schulen? Wie können sie damit besser umgehen? Wie kann man die täglich auf Bildschirmen und in Social Media ablaufenden Ereignisse angemessen thematisieren, die Bilder und das, was sie auslösen? Was meinen Schulsozialarbeiter:innen und Pädagog:innen zu Aussagen wie: „Emotionen nach dem 7. Oktober haben in der Schule keinen Platz.“ Oder aber: „Weinen ist ein politischer Akt.“

Gottfried Kössler, ehemaliger stellvertretender Direktor des Fritz-Bauer-Instituts und Lehrer für Geschichte, Politik und Deutsch, meint, die Herausforderung für Lehrkräfte sei groß wie selten. Dabei werden Emotionen gerade bei diesem Thema oft im Unterrichtsgespräch nicht zugelassen:

Emotionen sind derzeit der Auslöser für alles. Die Jugendlichen kommen mit Emotionen in die Klasse, die Erzählungen oder Medienkonsum bei ihnen ausgelöst haben. Oft kennen sie die Fakten nicht. Und die Lehrer? Sie vermögen das Gespräch nicht zu steuern. Deshalb müssen sie lernen, Emotionen der Schüler aber auch ihre eigenen wahrzunehmen und zuzulassen. Das ist das Schwierigste von Allem: Denn unter Umständen muss die Lehrkraft zulassen, was sie persönlich vielleicht selbst ablehnt.“

In deutschen Lehrplänen spielt der Nahostkrieg in der Regel keine Rolle. Dabei ist er so alt wie der Zweite Weltkrieg oder das Thema Imperialismus und Kolonialisierung. Die Mehrheit der Lehrkräfte, so Gottfried Kößler, sei zudem nicht vorbereitet auf die Flut an Bildern, Informationen und Fake News, die täglich zum Kriegsgeschehen über Erwachsene und Schüler:innenschaft hereinbrechen:

Die Lehrer schaffen es unmöglich, das im Nu zu lösen. Ehrlicherweise muss man sagen: Die Lehrerausbildung ist immer noch in der Tradition des 19. Jahrhunderts befangen und nicht fähig, pädagogische Prozesse zu steuern. Schon gar nicht konflikt-beladene Prozesse, die nicht in den Curricula vorkommen.“

Ein scheinbarer Rettungsring in der Debatte sind Rote Linien. Sie sollen Grenzen setzten, um Schüler:innen zu zeigen, wie und warum extrem polarisierte, dämonisierende Bild- und Text-Narrative in Medien, Politik und Wissenschaft das Erlaubte überschreiten. Was darf nicht mehr gesagt werden? Und wer legt das fest?

Bei vielen Worten weiß ich, was die Einen oder Anderen meinen, aber man spricht es nicht klar aus. Ich glaube auch, dass wir Tabus brauchen im Dialog, die als Grenzen wirken“, sagt Sabena Donath, Direktorin der Bildungsabteilung beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Sie schaut von Berufs wegen täglich zahlreiche Bilder im Kontext des 7.Oktober. Mehr als viele sich zumuten würden.

Was ist unsagbar? Und was müssen die Betroffenen sich trauen, mir zu sagen, nach Möglichkeit? Was kann im Lehrer-Kollegium besprochen werden und was nicht? Das würde helfen, damit man künftig Verschwörungstheorien trennen kann von Betroffenheitsperspektiven, die ihre Berechtigung haben und wo persönlicher Schmerz diskutiert werden kann. Daher muss man über rote Linien sprechen. Das vermisse ich sehr. Und die Lehrer müssen da gestützt werden.“

Fast körperlich spürbar bei vielen Lehrkräften und Pädagog:innen in der Debatte ist der Wunsch nach anerkannten Autoritäten, die Konsens und Lösungswege vorgeben. Die aber gibt es bislang nicht. Denn so etwas wie der 7.Oktober sei noch nie da gewesen, so Sabena Donath:

Der 7. Oktober ist ein besonderer Einschnitt für die jüdische Geschichte. Er hat Ähnlichkeiten zum Holocaust. Die Methoden, die angewendet wurden, etwa. Die bestialische Gewalt trug Züge eines Pogroms, schlimmer noch. Und mit Absicht. Die folgenden Protestwellen waren ein Deckmantel für eine große antisemitische Haltung und Vernichtungsrhetorik, anders als in den bewaffneten Auseinandersetzungen von 2014 oder 2021. Jetzt geht es um Vernichtung.“

Donath schwebt gegen Unwissen und zur besseren Vorbereitung auf Fragen der Schüler:innenschaft ein neues Fach vor: Demokratie-Erziehung. Außerdem und als Teil davon: mehr Nahost-Faktenwissen. Am besten schon zu Anfang des Lehramtstudiums oder noch davor. Das ist sicher ein dickes Brett zu bohren.

Wie aber können Lehrer:innen zeitnah Empathie für die Gegenseite und ihr Schicksal wecken? Für Nicole Broder, Leiterin der Politischen Bildung an der Bildungsstätte Anne Frank, gibt es eine Grauzone, die dabei benannt gehöre:

Was für den Einen legitime Kritik ist, ist für den Anderen schon antisemitisch. Dabei muss man lernen, die unterschiedliche Antworten auszuhalten. Es gibt eben nicht immer klare Antworten auf alle Fragen. Es ist immer ein Ringen. Man muss dabei genau benennen, wo kein Konsens ist und wer spricht, und aus welcher Perspektive.“

Als entscheidenden Punkt sieht sie dabei die Schlacht um die Deutungshoheit in den Medien.

Der Zugang zu den Social Media ist entscheidend. Wir müssen als Gesellschaft da sein, wo junge Menschen sich virtuell aufhalten. Social Media sind nicht des Teufels. Wir müssen vielmehr Gegennarrative finden und uns auf den Medien-Gebrauch der Jüngeren mehr einlassen. Wie bei klassischen Leitmedien. Da gibt es noch viel zu tun.“

Ein positives Beispiel ist die Rütli Schule in Neukölln in Berlin. Dort unterrichtet Mehmet Can als Geschichts- und Politiklehrer am Campus. Eine Gemeinschaftsschule, an der sehr viele Kinder einen muslimisch-arabischen Hintergrund haben. Die Schule ist mit dem Nahost-Konflikt vertraut. Es gibt eine Stunde „Glauben und Zweifeln“ sowie Arabischunterricht. Bis vor Kurzem gab es auch Fahrten nach Israel und in die palästinensischen Gebiete.1 Can hat mit Eltern palästinensischer und islamischer Schüler:innen zu tun. Alter und Pubertät spielen dabei eine Rolle:

Ich würde sagen: Viele in der Schülerschaft wollen zwar nicht, dass Menschen sterben, aber die Emotionalität der Bilder ist sehr herausfordernd für sie. Vor allem, wenn sie noch in der Pubertät sind. Ich meine vor allem solche aus der Sekundarstufe I. In der Sekundarstufe II bei den höheren Klassen kann man im Vergleich als Lehrer etwas einfacher auf die Sachebene kommen. Aber auch das bleibt zurzeit oft schwierig.“

Eine besondere Herausforderung dabei ist Hate Speech. Etwa wenn Schüler:innen andere Schüler:innen in Social Media und Messengern diskriminieren und zu Hass aufrufen – ohne, dass die Lehrer:innen diesen Dialog in den Social Media zeitnah beeinflussen können. Dann entstehen schulische Parallelwelten, die das Potenzial für Gewalt haben.

Die Schülerschaft, mit der ich zu tun habe, hat auch mit Verklärung des 7.Oktober zu tun. Oft aus Mangel an Empathie. Wir dürfen uns daher nicht in Detailfragen verlieren, indem wir fragen: ‚Wer hat was gemacht?‘ Sondern mir geht es darum, die Unversehrtheit menschlichen Lebens ganz allgemein als Konsens zu betonen“, so Mehmet Can.

Das gelingt nicht immer. Wie ohnmächtig, zum Teil überfordert Lehrkräfte im aktuellen Kontext sein können, zeigt sich am Thema Schweigeminuten aus Anlass des 7. Oktober. Es gab diese bereits in einer Reihe von Bundesländern.

Die Schweigeminute“, meint Gottfried Kößler, „ist wirklich sinnlos, wenn es nicht einen Inhalt gibt, der vorher vermittelt worden ist. Die Schweigeminute ist ein Ritual. Ich brauche daher eine Beziehung, um zu verstehen, was konkret betrauert wird. Wenn ich das nicht habe, ist es ein aufgezwungenes Ritual, das das Ziel verfehlt.“

Rituale kommen hier an eine Grenze, selbst wenn sie Teil der Erinnerungskultur sind und von offizieller Seite der Staatsräson gegenüber Israel zugerechnet werden. Das macht umso skeptischer, als viele Bemühungen von Institutionen und sie tragenden Personen mit dem 7. Oktober einen Bruch erkennen, von dem sie nicht wissen, ob er jemals wieder heilbar ist. Sabena Donath hat konkret gelitten, erzählt sie:

Ich stehe jetzt vor den Scherben meiner Arbeit. Ich habe 20 Jahre lang versucht, in Deutschland Judentum und Nahost zu erklären. Ich verstehe die Gefühle von Schülern und Schülerinnen. Was ich nicht verstehe, ist die mangelnde Empathie meiner nichtjüdischen Mitbürger. Die sich nicht melden. Oder relativieren.“

Wegschauen. Relativieren. Was ist antisemitisch? Wann ist der richtige Zeitpunkt für Worte? Am Ende bleibt jede Lehrer:in selbst aufgerufen, im Klassenraum Gespräch und Emotionen auszuloten und sich dafür ein Handwerkszeug zuzulegen. Das ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance. Dabei sollte man nicht gleich verurteilen. Die Ultima Ratio für Lehrer, meint Gottfried Kößler, bestehe jedenfalls nicht darin, die Polizei oder einen Anwalt zu rufen.

Als Lehrer muss ich mir klar werden, ob ich mit einer Äußerung ihre Strafbarkeit durchsetzen will oder nicht. Oder ob es mir wichtig ist, im Gespräch zu bleiben mit der Schulgruppe. Wenn ich sage: ‚Schluss, ich hole die Polizei‘ im Extremfall – dann ist der pädagogische Prozess sofort beendet. Und das wäre nicht meine Absicht als Lehrer.“

Rote Linien ziehen klingt gut. Wie ein Stift, mit dem man eine Grenze zieht. So einfach geht es aber nicht. Das dämmert Lehrkräften und Pädagog:innen, die deshalb in der Krise Austausch unter Kolleg:innen suchen und bei Expert:innen, sich ein größeres Angebot an Fortbildungen wünschen. Das soll sie in die Lage versetzen, mit dem Nachwuchs an unseren Schulen angemessen mit dem aktuellen Kriegsgeschehen umzugehen.

Martin Gerner ist ARD/DLF-Autor und Konfliktforscher. Zuletzt erschienen sind „Finding Afghanistan“ im modo Verlag (Buchtipp DISS-Journal #43, 75) und „Moria. System. Zeugen“ im Böhlau Verlag (Rezension DISS-Journal #42, 25 f.). Kontakt über www.martingerner.de oder mar.gerner@gmail.com.

1 Dazu hat die Rütli Schule einen für Schule gut geeigneten Comic online veröffentlicht: mehrals2seiten.de.