Andreas Foitzik, Rudolf Leiprecht, Athanasios Marvakis, Uwe Seid (Hrsg.):

 

"Ein Herrenvolk von Untertanen"

Rassismus - Nationalismus - Sexismus

 

 

 

 

Klaus F. Geiger

Deutsch-europäische Festungsgeschichten und die Re-)Konstruktion des Feindes Islam

Vorbemerkung zur Druckfassung

Der vorliegende Beitrag ist in Stil und Inhalt weitgehend mit der Vortragsfassung identisch. Gerade deshalb bedarf es einer Vorbemerkung zur Thematik und zum methodischen Vorgehen.

"Die europäische Union" und "die Wiedergewinnung der nationalen Identität Deutschlands" sind gleichzeitig ablaufende Diskurse, die eine strukturelle Gemeinsamkeit besitzen: in der Ethnisierung der jeweiligen politischen und Bevölkerungs-Einheit, d.h. auch in der Kulturalisierung politischer Interessen und Machtkonstellationen, und in der gewaltförmigen und -kanalisierenden Trennung von Bevölkerungen und Ideologien in das (angeblich) bedrohte Wir und das bedrohliche Andere.

Ziel des Beitrages ist es, die Diskurse im Hinblick auf die genannte Gemeinsamkeit nachzuzeichnen. Sie entstehen in der Verknüpfung von Texten, die ich - der doppelten Bedeutung des Wortes wegen - Geschichten nenne. Diese "Geschichten" entstammen zwei verschiedenen Materialquellen. Geschichten, deren Thema die Erzeugung von Festungsmentalität ist, habe ich den Leitartikeln auf Seite 1 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung entnommen. (Zitate mit Datumsangabe beziehen sich im folgenden immer auf diese Leitartikel.) Diskursanalyse macht die Verbindung der Einzelgeschichten zu einer "Gesamtgeschichte" plausibel. Sie bedarf nicht unbedingt der quantifizierten Gewichtung. Gleichwohl kommt die erste Hälfte meines Beitrags dem Ergebnis einer quantifizierenden Inhaltsanalyse der FAZ-Leitartikel nahe: Alle (jeweils zwei) kommentierenden Artikel auf Seite 1 der Ausgaben von August 1990 bis Mai 1991 haben Berücksichtigung gefunden; dabei hat sich ergeben, daß die Geschichten zum Thema "Festungsmentalität" in dieser Zeit nicht nur äußerst häufig, sondern auch in sich einheitlich sind. Bei Themen, wo neben einer Mehrheits- eine Minderheitsposition Ausdruck findet - Verhältnis USA / Europa und Einschätzung der "islamischen" Länder -, werden beide Positionen benannt. Die FAZ wurde zur Analyse ausgewählt, weil hier der untersuchte Diskurs besonders breit, einheitlich und vor allem auch in seinen Intentionen explizit zu Wort kommt.

Aber selbstverständlich zielt mein Beitrag nicht auf Idiosynkrasien einer einzelnen Tageszeitung. Eine breiter angelegte Untersuchung würde zweifellos nachweisen, daß der gleiche Diskurs in analoger Form zur gleichen Zeit in einem Großteil der deutschen (und nicht nur der deutschen) Print- und elektronischen Medien zu verfolgen war (vgl. Gerhard / Schulte-Holtey 1991). Zitate aus anderen Zeitungen und Zeitschriften sollen daher nicht nur ergänzend auf weitere Inhalte und Konnotationen des Diskurses hinweisen, sondern durch die Wahl parteipolitisch sehr unterschiedlich zuzuordnender Autoren auch darauf hinweisen, wie weit 1990/91 der Konsens in den angesprochenen Fragen ging.

Im zweiten Teil des Beitrags geht es um den ergänzenden Diskurs "der Islam als Bedrohung Europas". Er wird nachgezeichnet anhand der Bücher zweier Autoren, die auch im Fernsehen als "Experten" vor und während Golfkrise und -krieg Vorgänge im Nahen Osten kommentierten. Auch hier sollen Zitate aus anderen Quellen darauf hinweisen, daß der Diskurs sich in einem sehr breiten zeitgenössisch-aktuellen Material nachweisen läßt.

Festungsgeschichten

Geschichten sind Texte, die Personen und Territorien durch Handlung verknüpfen und so Sinn stiften. "Moralische" Geschichten tauchen die Personen, Territorien und Handlungen in das Hell-Dunkel der Bewertung. Ihrer Intention nach erfüllen sie eine didaktische Funktion: Die erzeugten Sinn-Bilder sollen sich über die Lebenswirklichkeit des Zuhörers, Zuschauers, Lesers legen und so seine Situationsdeutung und sein Handeln strukturieren. Derartige Texte sind unterschieden von und doch verwandt mit jenen anderen Texten, in denen der Gewaltmonopolist Staat gegenüber anderen Staaten, gegenüber "seinen" Menschen und gegenüber den Fremden, die in seinen Machtbereich kommen, festlegt, welchen Regeln seine Gewaltausübung folgen wird. Zu letzterer Textsorte gehören das Schengener Abkommen oder das neue Ausländergesetz, die meist zitiert werden, wo von der deutsch-europäischen Festung die Rede ist (vgl. blätter 1990). Aber um Gesetze und Verträge wird es im folgenden nicht gehen. Nachgezeichnet werden vielmehr Geschichten, welche solche Vertrags- und Gesetzestexte vorbereiten, legitimieren, erklären.

Gerade in einer sogenannten Zivilgesellschaft, wo Konsensbildung im Innern zur Herrschaftsausübung wichtiger ist als direkter Zwang, erhalten Geschichten, in denen professionelle Sinnproduzenten Weltbilder entwerfen, höchste Bedeutung. Ein wesentlicher Beitrag solcher Geschichten zur Konsensbildung, d.h. auch zur freiwilligen Unterwerfung unter Spielregeln (vgl. Demirovic 1991, S. 42f.), liegt in den Vorgaben zur je individuellen Identitätsproduktion. Es ist vielfach hervorgehoben worden, daß Identität im modernen Sinne mit der bürgerlichen Gesellschaft erst entsteht. Es ist gleich richtig, daß der Nationalstaat, als politische Artikulation dieser bürgerlichen Gesellschaft, zu seinem Funktionieren der individuellen Identität und ihres flexiblen, steuerbaren Wechselbezugs zu kollektiven Identitäten bedarf.

Es geht also um Geschichten, welche Identitätsproduktion durch Konstruktion kollektiver Identitäten beeinflussen wollen. Ziel ist die Zustimmung zu Regeln staatlicher Gewaltausübung. Daher sind auch Gewalt, Drohung, Angriff und Verteidigung, Freund und Feind wesentliche Inhalte; die Geschichten sind gewaltförmig und in der angezielten Handlungslenkung gewalttätig.

Festungsgeschichten schaffen und begründen die Festung und sind selbst Teil der Festung. Sie begründen und definieren die innere Ordnung, sie erzeugen Konsens über Befehlsabläufe, definieren die rechtmäßigen Bewohner und unterscheiden sie von den nützlichen oder unnützen geduldeten Zugezogenen, sie weisen mit dem Finger auf Feinde innerhalb der Mauern, sie fixieren die Grenze zum Umland, skizzieren dessen Topographie und unterteilen seine Menschen in Verbündete und Feinde, sie verschließen die Tore gegen unerwünschte Eindringlinge, bereiten die Verteidigung gegen Aggressoren vor, planen die Beherrschung des Umlands, von dessen produktiver Erschließung das eigene Leben - in der pathetischen Darstellung: das eigene Überleben - abhängt, bereiten Ausfälle gegen unbotmäßige Verbündete und machtbesessene Feinde vor.

Nationalistisch-rassistische Diskurse

Die aktuellen deutsch-europäischen Festungsgeschichten sind Teil und Transportmittel nationalistisch-rassistischer Diskurse. Zu ihrem Verständnis, d.h. zum Verstehen, welche Struktur der von ihnen produzierte Sinn besitzt, seien einige Thesen skizziert, die auf vorliegende Analysen der Funktionen und des Funktionierens von Nationalismus und Rassismus zurückgreifen. Zuerst möchte ich an die Analyse des Nationalstaates durch Nicos Poulantzas (1978, S. 85-113) anknüpfen: Der Nationalstaat entsteht durch die Strukturierung eines Territoriums; er setzt Grenzen, die Bevölkerungen ausgrenzen und andere Bevölkerungen eingrenzen, wobei auch 'innere Ausgrenzungen' entstehen. Diese Strukturierung des Raumes geschieht durch die Strukturierung der Zeit. Der Nationalstaat bedarf zu seiner Entstehung und Aufrechterhaltung der Konstruktion einer Geschichte, auch diese grenzt ein und aus, denn sie ist die Geschichte eines Kollektivindividuums, nämlich des Volkes. Dieses Volk verwirklicht sich politisch in der Nation; das Territorium wird und ist sein Territorium; die im Innern und Äußern Ausgegrenzten sind die Fremden und potentiellen Feinde. So existiert der Nationalstaat durch die Schaffung und Definition von Identitäten - Wir und die andern -, deren Handlungen in der als Geschichte konstruierten Vergangenheit wie in der erwarteten Zukunft eine Einheit deshalb bilden, weil sie sich auf gemeinsame Werte beziehen; d.h. es gibt unsere Geschichte und die der anderen, vorangetrieben jeweils von unseren Werten und den Werten der anderen. Ein- und Ausgrenzung wirken dabei - nicht nur auf die Ausgegrenzten, sondern auch auf die Eingegrenzten - potentiell gewalttätig: die Einheit ist eine stets bedrohte, die Einheit des Territoriums, die Einheit des nationalen Subjekts, die Einheit und das Überleben der "eigenen" Werte.

Zweitens ist auf Ausführungen von Etienne Balibar zu verweisen, der den historisch konkreten Zusammenhang von Nationalismus und Rassismus analysiert (Balibar / Wallerstein 1990, S. 49-84). Der Nationalismus bedarf des Rassismus zu seiner Innenausstattung. Die Definition des Wir, seiner Einheit und Abgrenzbarkeit, seiner Würde, die es zum (immer: angeblichen) Alleinbeherrscher eines Territoriums macht und die kampfbereite Verlängerung seiner Existenz in die Zukunft legitimiert, bedarf der Verankerung in Qualitäten; das gleiche gilt für die andern, die Fremden. Diese distinkten Qualitäten bezeichnen den legitimen Platz menschlicher Gruppen in Zeit und Raum und damit explizit oder implizit in der macht-strukturierten Weltordnung. Mit Balibar wird heute häufig zwischen "altem" und "neuem" Rassismus unterschieden (Balibar / Wallerstein 1990, S. 23-38). Beiden ist gemeinsam die Vorstellung der absoluten Unterscheidbarkeit von Menschengruppen, ihrer jeweils aus- und einschließenden qualitativen Einheit; beiden ist auch gemeinsam der Horror und die Warnung vor Vermischung. Unterschiede bestehen in doppelter Weise. Erstens argumentierte der "alte" Rassismus quasi-naturwissenschaftlich, biologistisch; er führte als Zentralbegriff die Rasse im Munde. Der "neue" Rassismus dagegen spricht von "Kulturen", naturalisiert aber freilich auch Gesellschaft und Geschichte, weil diese "Kulturen" als einheitliche, zeitüberdauernde Entitäten konstruiert werden. Zweitens plazierte der "alte" Rassismus die Rassen auf einer Stufenleiter, die vom Tier zum "modernen" Menschen führt; der Mensch auf der obersten Stufe trägt das weiße Gesicht der Konstrukteure dieser Rassenlehren; der Platz der andern im Verhältnis zur obersten Stufe bezeichnet den Grad der jeweiligen Zivilisiertheit - nach anderer Lesart: Zivilisierbarkeit - und damit auch den Grad von Ferne und Nähe zu "uns an der Spitze". Auch der kulturologische "neue" Rassismus kennt solche Grade der Ferne und Nähe, die aus Verwandtschaften von Kulturen innerhalb klar voneinander geschiedener kultureller "Grundströmungen" konstruiert werden. Aber statt von Stufenleitern wird aufgeklärt nur noch von Differenz gesprochen, wobei das Faktum der Differenz unter der Hand zur Pflicht zur Differenz wird und zur Verpflichtung derer, die der "eigenen" Kultur angehören, diese Differenz zu sehen, zu hüten, durch Fernbleiben vom Fremden oder durch Entfernen des Fremden zu verteidigen. (Faktisch gibt es fließende Übergänge vom "alten" zum "neuen" rassistischen Diskurs; die betreffenden Ideologieproduzenten beweisen immer wieder, wie einfach der eine in den andern zu übersetzen ist. In Massenpublikationen und in den Köpfen von Mehrheiten schließlich vermischen sich das Pathos der Differenz und der Angsttraum der Verschmelzung mit dem Klammergriff an der Stufenleiter, wo "wir" auf der obersten Sprosse stehen, die "andern" aber unter uns.)

Wenn Balibar auf die Integration des Rassismus in den Nationalismus, genauer: die Nationalismen, abhebt, so besteht er doch auf Unterschieden zwischen beiden ideologischen Diskursen und damit auf dem Spannungscharakter jeder Verbindung zwischen beiden. Ein wesentlicher Unterschied besteht in dem Anspruch auf zeitliche und räumliche Gültigkeit. Ob nun von "Rasse" oder "Kultur" die Rede ist - jeweils ist das Trägersubjekt umfangreicher als eine Nation; der Rassismus tendiert zum Überspringen von Nationalstaatsgrenzen. (Selbstüberhöhungen der eigenen Nation und nationalistische Träume der Eroberung von Weltmacht bedürfen daher der Hilfskonstruktionen, wonach das "eigene" Volk am reinsten das Wesen einer Rasse ausdrücke oder der genialischste Schöpfer und Verteidiger einer Kultur sei.)

Wie steht es nun mit der "Nation Europa"? Eine bekannte neorassistische Zeitschrift trägt diesen Namen nicht nur aus dem Grund, den Gedankenaustausch zwischen der französischen und der deutschen "neuen" Rechten terminologisch zu erleichtern. Nein, es ist der Versuch, den Begriff der Nation auf den Bereich zu erweitern, den Rasse bzw. Kultur in Zeit und Raum beansprucht. Alle Versuche, Europa zu ethnisieren, als nicht nur angestrebte politisch-territoriale, sondern latent immer existente geschichtlich-kulturelle Supernation zu formieren, heben also tendenziell die bestehende Spannung in der Verbindung von Rassismus und Nationalismus auf; das gelingt total und totalitär, wo das Eigenkollektiv sich auf den gesamten Norden erstreckt, von Alaska bis nach Sibirien, und Europa bzw. der Westen bzw. die europäisch-atlantische Wertegemeinschaft identisch wird mit der "weißen Rasse".

Topographische Entwürfe

Nähern wir uns den Festungsgeschichten. Wichtig ist der Plural; es handelt sich um ein Geflecht von Geschichten unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Inhalts - die aber wie ein Bündel verschiedener vektoraler Kräfte in eine einheitliche Richtung wirken, sowohl was das Weltbild, als auch was die Maßstäbe bei der Definition und Bewertung von Identitäten betrifft. Widersprüchlich müssen diese Geschichten sein aufgrund ihrer Funktion, Konsens in einer Gesellschaft zu erreichen. Denn an dieser Aushandlung von Konsens innerhalb des sogenannten historischen Blocks wie auch zwischen diesem und den dominierten Gruppen sind unterschiedliche Fraktionen mit unterschiedlichen Interessen und deshalb auch unterschiedlichen Sinnproduzenten und -produktionen beteiligt. Außerdem erzeugen nationalistische und rassistische Perspektiven auf die Menschheit ja immer Geschichten, die zeitlose Gültigkeit beanspruchen, zeitenüberdauernde Wesen und Charaktere und Freund-Feind-Konstellationen behaupten. Die Verhältnisse im nationalen und internationalen Rahmen und die jeweiligen Kräfteverhältnisse verändern sich aber kontinuierlich: Einzelne Fäden in dem Geschichtenknäuel müssen also herausgezogen, andere neu gesponnen oder aus alten Vorräten wieder hervorgeholt und hinzugefügt werden. Dabei haben die Funktionen des Diskurses - Definition und Qualifizierung von Freund und Feind, Konsensherstellung und Mobilisierung - Vorrang vor den Regeln inhaltlicher Logik. In der jetzigen Situation ist es funktional und nicht dysfunktional, daß uns quasinationale und nationale Identifikationen angeboten werden - als Wessi, Deutscher, Europäer, Mensch des Westens -, die logisch nicht zur Deckung kommen. Ebensowenig stört es die Interessen des herrschenden Blocks, wenn im Bild von der Menschenlandschaft am arabisch-persischen Golf vor drei Jahren und vor einem Jahr die gleichen Konfigurationen erschienen - mit einem Unterschied: der Kopf des zunächst Verbündeten wurde auf die Gestalt des schurkischen Feindes montiert.

Die Widersprüchlichkeit der nachzuzeichnenden Geschichten beginnt bereits mit der Bezeichnung und topographischen Beschreibung der Festung; gerade hier wird sichtbar, wie zukunftsorientierte Strategien miteinander im Streit liegen. Unklar ist das Verhältnis von deutscher und europäischer Identität, verschwommen bleibt die erwünschte Position Deutschlands innerhalb eines europäischen Machtgefüges und der Bezug zwischen (jeweils hypostasierten) deutschen und europäischen Interessen. Gleichzeitig hören wir den Aufruf, europäisch zu sein, um deutsche Interessen besser in der Welt vertreten zu können, und die Aufforderung, deutsch zu sein, um so Europa voranzutreiben. Die ganze Ausdehnung eines "europäischen Hauses", wegen seines martialischen Charakters besser als Festung bezeichnet, ist äußerst unklar. Daß die Blicke der Wachtposten und die Kanonen nicht mehr zum Teil nach Osten, sondern insgesamt jetzt nach Süden zu richten seien; ganz zynisch: daß das Ende des Ost-West-Gegensatzes jetzt den Verfolg "unserer" Interessen im Nord-Süd-Gegensatz erleichtere, ist akzeptierter Ausgangspunkt der bestallten Erzähler von Festungsgeschichten. Gefeiert wird die "Rückkehr der mittel- und osteuropäischen Länder in die westliche Werte-Gemeinschaft" (FAZ 14.05.1991). Auch die Sowjetunion, deren Herrschafts- und Gesellschaftsstruktur bisher die Feindetikettierung "asiatisch" aufgeklebt bekommen hatte, wird als Rußland wieder nach Europa zurückgeholt - rassistisch verdeutlicht im Zitat einer angeblichen Äußerung von Charles de Gaulle: "Eines Tages werden sogar die Russen begreifen, daß sie Weiße sind" (bei Scholl-Latour 1991, S. 153). Bei einem Austausch der Termini in den kulturologischen Stil lautet diese Feststellung, daß nach dem Willen von Gorbatschow "die Sowjetunion unwiderruflich Teil der zivilisierten Welt sein soll" (FAZ 27.08.1990). Sind die ost- und südosteuropäischen Staaten damit aber schon legitime Bewohner der europäischen Festung oder nur pazifiziertes Glacis, also "Zwischeneuropa" und "Pufferzone" (FAZ 29.11.1990)? Der differenzierteste Vorschlag für die Topographie und damit die Abstufung der Rechte und Machtteilhabe innerhalb der Festung findet sich in einer "Vision für Europa" von Mitarbeitern des Bundeskanzleramtes (Mertes / Prill 1989). Das vorgeschlagene Konzept von "vier konzentrischen Kreisen" unterscheidet zwischen einem föderativen Innenbezirk aus den sechs EG-Kernstaaten und einem weiteren Kreis, der die gesamte EG und eventuell Norwegen, Österreich, Schweden, die Schweiz, aber auch die Türkei einschlösse (letztere wegen ihrer "große(n) Bedeutung (...) für die Interessen der Europäischen Gemeinschaft in der Golfregion"); den dritten Kreis bildete eine Europa-Assoziation, der auch Ostmitteleuropa, eventuell die baltischen Republiken, später vielleicht der Maghreb und Israel angehörten; im äußersten Ring des "gemeinsamen Hauses Europa" wären dann alle KSZE-Staaten, also auch die (Rest-)Sowjetunion, Kanada und die USA, eingebunden.

Die größten Spannungen in den Planungsbüros bestehen weiterhin zwischen sogenannten Atlantikern und Konstrukteuren der Tripolarität Europa-Japan-USA (vgl. Ruf 1991). Ideologen, denen die Welt als Spieltisch erscheint, an dem es um die Weltherrschaft geht, bangen um den Zusammenhalt des Westens: "Die bipolare Welt von gestern war die stärkste Stütze des amerikanischen Wunsches nach Zusammenhalt und Rücksichtnahme. Sie existiert nicht mehr, die Karten werden neu gemischt" (FAZ 21.05.1991). Die Atlantiker verneinen die Möglichkeit eines politischen "Gleichgewichts der Amerikaner und der Europäer" und sie dekretieren: "Soll es eine Weltordnung nach dem Kalten Krieg geben, dann kann es nur der zweite Teil einer 'Pax Americana' sein" (FAZ 31.05.1991). Voller Häme heißt es zu Beginn der sogenannten Golfkrise: "Gewissermaßen nebenbei werden die Westeuropäer durch die Krise am Golf auf ihre weltpolitische Normalgröße zurechtgestutzt: ohne amerikanische Führung hätten sie es bei diplomatischem Protestieren und militärischem Gestikulieren belassen" (FAZ 11.08.1990). Die andere Seite betont Interessenunterschiede zwischen Europa und USA und schlägt strategisch vor: "eine Erweiterung der Nato unter Einschluß auch der UdSSR und die Umstrukturierung zu einem Bündnis unter europäischer Führung" (Zusammenfassung einer Rede von Egon Bahr auf einer Tagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing in der HNA v. 16.06.1991).

Wenn auch die Position Deutschlands in der Europäischen Festung taktisch-verschwommen skizziert wird; wenn auch der Einbezug ost- und südosteuropäischer Länder ungeklärt ist; wenn auch ebenfalls ungeklärt ist, ob gegenüber den USA weiterhin Vasallentreue gelten oder Eigeninteresse betont und ein Vertrag über faires Konkurrenzverhalten bei der Ausbeutung der Welt abgeschlossen werden soll - strukturell gibt es zwischen all den widerstreitenden Kommentaren und Zukunfsszenarien und Sachbuch- Welterklärungen Übereinstimmungen; diese betreffen insbesondere die in der Metapher Festung enthaltene Weltsicht und Planungsperspektive.

Bevor wir die Festungsgeschichten genauer nachzeichnen, sei noch ein genereller Hinweis auf die Akteure, die Helden, dieser Geschichten erlaubt: Ich begann meine Materialanalyse mit einer über lange Zeit gewachsenen Verwunderung und Verärgerung über die Berge von Sätzen, Artikeln, Büchern über den Islam, die Araber, die muslimische Frau usw. usf. Mein Eindruck war, daß typischerweise die Seite der anderen, Fremden und Feindlichen ohne jede Differenzierung benannt und gezeichnet werden. Mit Verwunderung mußte ich bei der Textanalyse feststellen, wie weitgehend global auch die Wir-Seite benannt und klischeehaft gezeichnet wird. Als konstruierte, zeitüberdauernde Subjekte des Handelns tummeln sich in den Kommentaren: Deutschland, Europa, die westliche Welt, immer mehr auch wieder: das Abendland, selbst das christliche Abendland; ja, es findet sich als Superkonstruktion, als aktuell gedachte Trägerin gemeinsamer Interessen und einheitlichen Handelns eine Figur, der bisher eine utopische Aura eigen war: die Völkergemeinschaft (der alle angehören, die als Freunde, Verbündete oder Mündel definiert werden, und die nur diejenigen ausschließt, die aktuell als Feinde konstruiert sind).

Moralische Wiederaufrüstung

Versuchen wir die Festungsgeschichten zu ordnen, so ergeben sich zwei Gruppen. Die eine befaßt sich mit der Beschreibung der Kontrahenten Europa alias Abendland gegen die Dritte Welt alias Islam. Die andere, zunächst zu analysierende ist grundlegenderer Natur; ich will diese Geschichten mit dem Begriff "moralische Wiederaufrüstung" etikettieren - nicht um eine Verbindung zur Bewegung Frank N. Buchmanns herzustellen, sondern weil diese Wortfügung Inhalt und Zweck der Geschichten präzise zusammenfaßt; dabei sind alle Konnotationen dieser Wortfügung von Bedeutung: Es geht um eine Wiederaufrüstung nach (behaupteten) Tendenzen zur Abrüstung; hierzu dient die wiederentdeckte Waffe der besseren Moral; die eigenen höheren Werte schließlich sollen auch die "Moral" im engeren militärischen Sinne erhöhen; und gleichzeitig fixiert dieses Wortpaar den Gedanken, daß die militärische Bewaffnung "unserer Seite" allen religiös-ethischen Anzweiflungen zum Trotz moralisch sei.

Erste Aufgabe für die Ideologen einer "moralischen Wiederaufrüstung" ist die Begründung militärischer Rüstung und Kampfbereitschaft durch die Feststellung der Bedrohung und die Benennung der Feinde. Denn, so Michael Stürmer (FAZ 29.12.1990): "Die Nato muß sich einer neuen Frage stellen: Was ist aus dem Feind geworden? Die Antwort, als sie noch Stalin hieß, hat vor 40 Jahren alles zusammengefügt, und noch vor sieben Jahren standen Ost und West in der großen Konfrontation über militärische Mittelstreckenraketen in Europa. (...) Der Feind, so Präsident Bush, sei 'instability and insecurity'. Ob das aber reicht, um Wehrpflichtige unter die Fahnen zu rufen, Abgeordnete zum Geldbewilligen zu bewegen und Wähler zu überzeugen", erscheine zweifelhaft.

Bedeutsam für den Aufbau von Festungsmentalität ist ferner die Größe und unabsehbare Dauer der Bedrohung. So hieß es im Dezember 1990 (FAZ 29.12.1990): "Wir leben nicht mehr in Vorkriegszeit und Vorkriegslage. Aber es wäre unklug, wie die Golfkrise zeigt, sich auf immer darauf zu verlassen." Nachdem die Waffen, wie die ethische Verantwortlichkeit suspendierende, immer wieder wiederholte Formel lautete, gesprochen hatten und wieder schwiegen, lautete das Fazit: "Der Krieg am Golf gab einen Vorgeschmack" (FAZ 31.05.1991). "Es ist durchaus denkbar, daß das kleine Scheichtum Kuwait in die Historie eingeht. Hier wurde zum erstenmal das Fanal gesetzt für die sich abzeichnende Nord-Süd-Konfrontation." (Scholl-Latour 1991, S. 25)

Wir stehen also, so die Überschrift eines Leitartikels, "Vor härteren Zeiten", und daraus sind Konsequenzen für Politiker und für Pädagogen zu ziehen: "Warum beschreibt niemand die realistische Aussicht für die nächsten Jahre", daß "weder Appeasement noch Ausgleich gelingen? Welcher Politiker, gar welcher Lehrer denkt darüber nach, wie man Kinder erzieht in einer Kultur, die sich behaupten muß?" (FAZ 16.02.1991)

Offensichtlich geht es nicht nur um Erziehung, sondern um Umerziehung. Denn es gilt anzukämpfen gegen die im "eigenen Lager" herrschende Dekadenz - ein zentrales Thema rassistischer Historiographie (Balibar 1990, S. 70). "Im Westen hat man sich in Wohlstand eingerichtet, pflegt Sanftmut und Friedfertigkeit" (FAZ 24.11.1990). Insbesondere scheint den moralischen Wiederaufrüstern dies ein Problem der Deutschen zu sein, denen es wegen ihres Fehlverhaltens im Golfkrieg nicht "erspart geblieben" sei, "sich lächerlich zu machen als geschwätziges, friedensbewegtes Weltgewissen oder als Nation bußfertiger Scheckaussteller" (FAZ 16.02.1991). Durch genüßliches Zitieren von Kritiken aus dem Ausland wird indirekt versucht, die Zustimmung zu deutscher militärischer Einmischung zu stimulieren: Frühere Kriegsgegner werfen den Deutschen (angeblich) ihre Friedfertigkeit vor, die sich als Schmarotzertum entpuppt. Hier gilt es, Beispiel zu nehmen an anderen europäischen Nationen. Bei einem Soziologen, dessen Standortbestimmung als "liberal" Konsens besitzt, findet sich folgende Passage:

"Großbritannien ist, wie ein Minister es in diesen Wochen ausdrückte, 'a warlike nation'." Es folgt ein Hinweis auf britische Befürwortung von Prügelstrafe und auf Fußballkrawalle und die Feststellung: "Ich kann es nicht erklären, sondern nur beobachten, daß sich hierzulande die äußerste Verfeinerung der Sitten und Gebräuche mit dem Elementaren auf eigentümliche Weise verbindet.(...) Was das Elementare betrifft, so hat Deutschland sich in der Nachkriegszeit weit davon entfernt.(...) Es gibt nicht viele Länder, in denen Menschen mit einem Schild 'Ich habe Angst' auf die Straße gehen können, ohne sich zu genieren." (Dahrendorf 1991, S. 235)

Auffällig ist in diesem Kommentar der Begriff des Elementaren - offensichtlich als Gegenbegriff zu Zivilisiertheit und überzivilisierter Empfindsamkeit - und darin implizit eine den Menschen naturalisierende, an "natürliche" Aggressivität bindende Sichtweise der Anthropologie, Ethologie, Soziobiologie. Die gefährliche Nähe zu einer faschistoid-rassistischen Umwertung der Werte, die dem Unzivilisierten Heldenglanz verleiht, wird in der "Zeitung für Deutschland" deutlich, wo ein Kommentator mit dem Begriff des "Barbaren" spielt. Hier (FAZ 06.02.1991) wird die Fehlentwicklung deutscher Mentalität nach dem Zweiten Weltkrieg folgendermaßen beschrieben: "Ein guterzogener Deutscher glaubte (...) den besten Beitrag gegen das Böse in der Welt zu leisten, wenn er den Barbaren in sich selbst niederhielt." Fatalerweise sei er darin von internationalem Beifall bestärkt worden.

Können wir auch das in provokativer Absicht immer wieder gezeichnete Bild vom friedfertigen Deutschland, von der pazifistischen Gesinnung der gesamten Gesellschaft, von pazifistischen Prinzipien als Grundlage bundesdeutscher Innen- und Außenpolitik zu unserem Bedauern nicht bestätigen; so scheint mir ein zweiter Versuch der historischen Verortung der Gedanken, die abgelehnt werden, der Haltungen und Tendenzen, die zu bekämpfen seien, der Prozesse, die zurückzudrehen seien, bedeutsam und korrekt: Die "Mentalität", die "zu verändern" sei (FAZ 07.02.1991), sei weniger "der weit überschätzten Wirkung missionarischer Besatzungsoffiziere von 1945 zuzuschreiben", sondern den mit dem Etikett "1968" gemeinten Bewegungen (FAZ 05.03.1991).

Der Aufruf zur Wiederbewaffnung deutschen Bewußtseins wird mit der 1990 vollzogenen staatlichen Vereinigung verbunden. Deutschland sei hiermit wieder ein normaler Nationalstaat. Das bringe Verpflichtungen mit sich. Deutschland könne und müsse jetzt die ihm zustehende "Rolle in der Völkergemeinschaft" einnehmen. Begründet wird dies zunächst mit dem Argument der Dankesschuld: "Deutschland hat bisher von der Nato Schutz beansprucht, jetzt muß es auch zum Schutze anderer beitragen" (FAZ 12.12.1991). "Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen: würde dies in Zukunft Grundsatz deutscher Außenpolitik oder Prämisse deutscher Militärpolitik, so wäre der Weg vorgezeichnet in Gefahren des weiland Deutschen Reiches." (FAZ 25.09.1990)

Die zweite Begründung liegt in den Vorstellungen von Normalität, in denen die oben zitierte Vorstellung vom Menschen, der nicht verzärtelt, sondern dem Elementaren seiner Natur nahe ist, auf das Subjekt Deutschland bezogen wird. Gefordert wird "der Mut zum Mitmachen" (FAZ 06.02.1991). Ethisch verankert ist dieser Aufruf in der Forderung, "Verantwortung zu übernehmen" in der Welt; dabei bedeutet "Verantwortungsübernahme" in diesem Kontext immer Bereitschaft zu militärischer Rüstung und militärischen Eingriffen in internationale Spannungen. Der Legitimations- und gleichzeitig Deckbegriff "Verantwortung" für militärische Strategien findet sich wortgleich in Beschreibungen der Rolle Europas und Deutschlands: Europa werde "zunehmend in größere Verantwortung und in globale Verflechtungen hineinwachsen" (Hüttel zit. nach Berndt 1991, S. 120). "Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung zu" (Kohl zit. nach Berndt 1991, S. 123). Ein Grüner Politiker spricht von der "neuen Weltfriedensverantwortung Deutschlands" (Knapp 1991, S. 55) - eine Formulierung, die nicht nur anregt, über das Wort "neu" nachzudenken, sondern auch über die fraglose Verknüpfung der "Friedensverantwortung" mit Militäraktionen. Wie stets in den hier nachgezeichneten Geschichten, wird die angestrebte Politik - Rüstung und militärische Einsätze im Süden des Globus - gerechtfertigt, indem das Gegenteil moralisch diffamiert wird - eben als "unverantwortlich" und "Duckmäusertum" (FAZ 17.08.1990) -, und zwar im Namen der Verbündeten. Es sei der Vereinigten Staaten "Sorge, das neue Deutschland könne allzusehr auf seine inneren Probleme fixiert und deshalb wenig geneigt sein, mehr Verantwortung in einer immer unwirtlicher werdenden Welt zu übernehmen" (FAZ 21.05.1991).

Die Diskursfigur, welche die "neue" Rolle Deutschlands betont und als Wiedergewinnung nationalstaatlicher Normalität beschreibt, wird verdoppelt durch eine zweite: Gewarnt wird vor dem deutschen "Sonderweg". Wie häufig in den Festungsgeschichten werden ehemals "linke" Positionen für "rechte" Argumentationen übernommen. "Sonderweg" war ja eine Bezeichnung für die "völkische" im Gegensatz zur "staatsbürgerlichen" Variante des Nationalismus und für militaristisches Streben nach Weltmacht. Jetzt bezeichnet "Sonderweg" gerade die Ablehnung von militär-fixierten Globalstrategien: "Auf die deutsche Vergangenheit bezogene Bedenken sollten vierzig Jahre neuester Geschichte widerlegt haben: Militarismus ist der Bundesrepublik nie vorgeworfen worden, eher 'Machtvergessenheit'." Gewarnt wird vor einer "Sonderstellung der Enthaltsamkeit in der Weltpolitik" (FAZ 17.08.1990).

Selbst der Begriff "Deutschtümelei" wird von rechts besetzt, um "die Intellektuellen" zu treffen, für die "Auschwitz" eine "Bannformel" sei, "bei der die Deutschen augenblicklich in eine angestrengte Selbstbetrachtung verfallen." Der Vorwurf der "Deutschtümelei" in der Überschrift des zitierten Leitartikels (FAZ 10.10.1990) wird so begründet: "Offenbar können die deutschen Intellektuellen nicht davon lassen, von Deutschland und den Deutschen als etwas Einmaligem, Unverwechselbarem zu sprechen." Sie pflegten den "Mythos einer Überlegenheit der Deutschen als der Europäer, die endlich postnational geworden seien".

Stattdessen gehe es um menschliche und staatliche Normalität. Nur das gewährleiste die Zugehörigkeit zum Westen (FAZ 06.02.1991), ja zur "zivilisierten Welt" (FAZ 17.08.1990). Allerdings scheint die Beteiligung Deutschlands an globalen Militärstrategien auch Voraussetzung für seine erwartete "Führungsrolle in Europa" (FAZ 19.02.1991).

Die Gleichsetzung von Verantwortungsübernahme mit der Bereitschaft zur militärischen Intervention wird möglich durch die Feststellung, daß der Westen im Golfkrieg und in künftigen Kriegen "moralische Werte", "das internationale Recht" (FAZ 09.08.1990), "Freiheit und Menschenrechte" (FAZ 05.03.1991) vertrete und verteidige. Die militärischen Aktionen geschehen also im Auftrag der "Völkergemeinschaft" (ein Subjekt, das in der ideologischen Begleitdebatte zum Golfkrieg durch eine doppelte Substitution konstruiert wurde: die Gleichsetzung der Vereinten Nationen mit dem Sicherheitsrat und der Völker mit den Staatsregierungen). Damit wird die militärische Intervention zur Polizeiaktion: Die Parallele ist hergestellt zur nationalen Polizei, welche auf der Grundlage des "im Namen des Volkes" gesprochenen Rechts und beauftragt durch die vom "Souverän Volk" legitimierten Staatsorgane Gewalt ausübt. Der Golfkrieg erscheint als einmalige Chance, den Posten einer solchen Weltpolizei zu schaffen und zu usurpieren: "Die gemeinsame Haltung der Sowjetunion und der USA in diesem Konflikt schafft die Gelegenheit, eine internationale 'Weltpolizei' zu etablieren, die in Zukunft wirksam in den Weltfrieden gefährdende Konflikte eingreifen kann." (Knapp 1991, S. 55).

Die Verknüpfung einer geplanten "Weltpolizei" unter dem Befehl des Nordens mit der Begründung der "Verantwortung" für die Welt wiederholt offensichtlich die kolonialistische Selbstdarstellung europäisch-imperialistischer Mächte unter dem Schlagwort "white man's burden".

Nebeneffekt: Wiedergutwerdung

Es ist vielfach analysiert worden, wie die Bedrohung von Menschen in Israel verknüpft wurde mit dem Völkermord an Juden und die verdrängte Schuld an diesem Verbrechen instrumentalisiert wurde, die Ablehnung des Golfkrieges durch deutsche Pazifisten zu diffamieren. Bei entsprechenden Argumentationssträngen fanden sich zur Erhöhung der angezielten Wirkung (s.o.) häufig Begriffe und Namen, die als "links" galten. So beginnt ein Leitartikel der FAZ (06.02.1991) mit einem Zitat von Adorno: "Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung." Ein anderer (16.02.1991) schließt mit der Lehre: "Es ist unehrlich, mit tremolierender Stimme Celans Todesfuge zu zitieren - 'Der Tod ist ein Meister aus Deutschland' -, sich aus dem Krieg gegen Saddam und seine todbringenden Raketen aber heraushalten zu wollen."

Bedeutsam ist, daß die Verbindung zwischen dem NS-Mord an Juden und irakischen Raketenangriffen auf Israel Teil einer umfangreichen historischen Parallelisierung war (vgl. Link 1991) - einer Parallelisierung, die gerade im Kontext der bundesdeutschen Diskussion eine untergründige Bedeutung erlangte. Zu dieser Parallelisierung gehörten ferner "die These von Hussein als dem Hitler in der Region, das Thema München 1938 und Appeasement-Politik" (affirmativ Hartung 1991, S. 60). Die Parallelisierung machte aus der propagierten Politik - Waffenlieferung an Israel und Beteiligung an künftigen Militäraktionen südlich des Mittelmeeres - ein Ritual der gewaltsamen Selbstreinigung für die Schuld vergangener Gewalttätigkeit. Die Geschichte bot scheinbar eine Wiederholungsvorstellung - und die Deutschen standen auf der richtigen Seite: sie standen gegen einen Hitler und retteten Juden. Ja, sie übernahmen in der Wiederaufnahme der Szene nicht nur die Rolle der früheren Gegner und jetzigen Verbündeten, sie unterließen auch deren damaligen Fehler des Appeasement; gerade, was sie schuldig gemacht hatte und bis heute verdrängt wird, die massive staatliche Gewaltausübung, wird in der historischen Wiederholung ihre Rechtfertigung: eine perverse Geschichte der Projektionen mit dem Material des Verdrängten.

Flüchtlinge als Bedrohung

Die Kommentare zum Golfkrieg dürfen nicht vergessen lassen, daß der Aufruf, Europa zur Festung auf- und umzubauen, nicht nur mit feindlichen Mächten südlich des Mittelmeeres, sondern noch mit einem weiteren Bedrohungsszenario begründet wird. Es ist häufig analysiert worden und braucht deshalb hier nur kurz benannt zu werden. Erwähnt werden muß es freilich, da - wie noch zu zeigen sein wird - beide Bedrohungsprojektionen miteinander verschmelzen. Die Rede ist von den Flüchtlingen, im dehumanisierenden Bild: vom "Hereinbrechen einer Flutwelle" von Flüchtlingen (FAZ 29.11.1990). Ein Buch, das dazu beitragen will, die Festung Europa in unseren Köpfen und danach in der staatlichen Realität aufzurichten, trägt den Titel "Sturm auf Europa". Dem Autor geht es darum, "Wege aufzuzeigen, wie man das 'christliche Abendland' angesichts der von vielen noch nicht erkannten Bedrohung durch eine alles zerstörende Völkerwanderung retten kann." "Nur die Abschottung vor einer Masseneinwanderung von Armutsflüchtlingen" biete die Chance, "auch in Zukunft noch menschenwürdig zu leben und vor allem zu überleben" (Ritter 1990, S. 9).

In offiziellen Debatten über das Asylrecht findet sich vielfach die Behauptung, eine solche "Abschottung" sei auch im Interesse der Flüchtlinge und es gebe zur Asylgewährung eine realistischere und gleichzeitig menschlichere Alternative; so argumentiert der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: "Ich will schon an dieser Stelle, um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, gleich vorweg betonen, daß ich für die Motive der Flüchtlinge durchaus Verständnis habe. Dieses menschliche Verständnis darf jedoch nicht zu der politisch fehlerhaften und gefährlichen Schlußfolgerung einer unbegrenzten Einreise- und Niederlassungsfreiheit führen. Es liegt auf der Hand, daß wir die Probleme dieser Menschen und ihrer Herkunftsstaaten nicht auf diese Weise lösen können. Auch unser Staat wäre womöglich diesem Zustrom nicht gewachsen. (...) Wir müssen uns verstärkt darum bemühen, den Menschen, die die wirtschaftliche Prosperität Westeuropas unwiderstehlich anzieht, eine Lebensperspektive im eigenen Land zu geben. Nur wenn ihnen durch eigene Anschauung die Überzeugung oder wenigstens die Hoffnung vermittelt werden kann, daß es im eigenen Land bergauf geht, werden sie ein Leben daheim dem ungewissen Schicksal eines Flüchtlings in der Fremde vorziehen." (Lintner 1991, S. 3f.)

Es gibt Diskurse, deren Wahrheitsgehalt und deren moralische Dignität sich weniger aus sich selbst als aus ihrem Kontext erhellen. Dabei kann sich zeigen, daß die Trennung eines Diskurses in mehrere distinkte, konkret: die getrennte Darstellung globaler Strategien in Form von Wirtschafts-, Außen-, Militär-, Entwicklungs- und Einwanderungspolitik, die zitierte Absichtserklärung ihres humanitären Scheins beraubt. Der Sprecher für Wirtschaftspolitik verspricht eine Politik, die "unsere" Position auf dem Weltmarkt bewahrt und stärkt; der militärpolitische Experte verlangt eine Strategie der Interventionsmöglichkeiten im Süden des Globus; der Außenpolitiker versichert "befreundete" Regierungen "unserer" Unterstützung; der Experte für Entwicklungshilfe schließlich bedauert, daß alle Hilfe nichts gefruchtet habe und Entwicklungspolitik durch den Aufbau von "international welfare" ersetzt werden müsse: So viele Flüchtlinge produzierende Einzelpolitiken widerlegen alle humanitären Argumente für die "Abschottung" Europas gegen Flüchtlinge.

Angreifer Islam

Kommen wir zum zweiten Teil der Festungsgeschichten, zu jenen nämlich, die von der Bedrohung durch den Islam sprechen. Dabei ist bedeutsam, daß in der Definition des "Feindes" südlich des Mittelmeers weniger Übereinstimmung besteht als in der Behauptung der Bedrohung überhaupt und in dem Szenario vom Ansturm der Flüchtlinge. In der zitierten "Vision für Europa" findet sich ja der Gedanke, die Maghreb-Länder aus der arabischen Welt abzuspalten und in die europäische Festung mitaufzunehmen. Die Kommentare der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigen sich widersprüchlich. Einerseits finden sich Passagen, wo die Frage nach dem "Feind" und nach "verläßlichen Strukturen" angesichts einer "neuen Unübersichtlichkeit der internationalen Politik" zu den Hinweisen führt: "Die Gefahren aus dem islamischen Halbmond flackern überall auf." - "Jenseits von Europa liegt der islamische Krisenbogen von Kasachstan bis Casablanca. Selbst wenn es nicht das Öl des Nahen Ostens gäbe und Europas Abhängigkeit davon, selbst wenn Saddam Hussein nicht wäre und seine Lust, der König von Arabien zu werden - es blieben die Unfähigkeit zur Demokratie, die Klüfte zwischen Arm und Reich und das Bevölkerungswachstum, das fast überall das wirtschaftliche Wachstum weit zurückläßt." (Michael Stürmer in FAZ 25.09. u. 29.12.1990)

Andererseits überwiegen in dieser Leitzeitung der "Atlantiker" die Stimmen, welche zwischen den arabischen Ländern differenzieren - z.B. zwischen dem "revolutionären Schiismus der Perser und der prinzipiell nicht anti-westlichen Haltung der Wahhabiten" (FAZ 03.05.1991) - oder generell die Schwäche der arabischen Länder und ihre Demokratisierbarkeit betonen (FAZ 28.03.1991). Andernorts findet sich aus der Feder eines früheren Bundeskanzlers und "Atlantikers" in der Begründung, die Türkei nicht in die EG aufzunehmen, eine grundsätzliche Trennung zwischen "europäischer" und "islamischer" Welt: "Wir Europäer sind gemeinsam auf das Stärkste von der auf dem Boden judeo-christlicher Traditionen entstandenen Kultur geprägt; die Türken als überwiegend muslimische Nation gehören einem ganz anderen Kulturkreis an, der seine Heimat in Asien und in Afrika hat, nicht aber in Europa." (Helmut Schmidt in Die Zeit v. 27.01.1989)

Eine Inhaltsanalyse auf breiterer Grundlage müßte überprüfen, ob die Aufrichtung eines globalen Feindbildes "Islam" dort besonders häufig anzutreffen ist, wo eine eigenständige Weltmachtrolle Europas begründet wird. Die Erklärung für einen solchen Zusammenhang wäre: Die ideologische Festigung der eigenen Ziele durch die Ethnisierung der geographischen und in wachsendem Maße politischen Einheit Europa verlangt die Benennung und Ethnisierung eines Feindes: "Das Schreckensszenario eines Krieges der arabischen Nation mit den Industrieländern droht (...). Es ist eine historische Drohung." (Hartung 1991, S. 61)

Ethnisierung Europas bedeutet Arbeit an einem Euronationalismus durch die Konstruktion gemeinsamer Interessen, gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer Werte und die Konstruktion des eindeutig Fremden mit seiner fremden Geschichte und seinen fremden Werten. Gleichzeitig werden die eigenen Interessen und die widerstreitenden entmaterialisiert: Es "geht nicht nur ums Öl". Der Verfolg materieller Interessen wird legitimiert, überhöht und verdeckt im Bild des Kampfes zwischen "Kulturen". Folgende Aussage von Michael Stürmer entwirft dieses Geschichtsbild und enthüllt in der Formulierung gleichzeitig, daß es sich nicht quasi von selbst ergibt, sondern Ergebnis ideologischer Konstruktion ist: In der nach Ende des Ost-West-Konflikts "neuen Lage" sei zu bedenken, daß es "um Geschichte und Kultur der Völker" gehe; "denn wo alles durcheinander fällt, da sind es die großen historischen Strömungen, die sich durchsetzen. Politische Imagination und strategische Vision müssen einander ergänzen." (FAZ 29.12.1990)

Das Feindbild "arabische Nation" oder "Orient" oder "Islam" wiederum steht für eine größere Bedrohungs-Einheit, die sogenannte Dritte Welt; der Islam ist "die Gestalt, in der die Dritte Welt Europa gegenübertritt" (Bullard 1991, S. 49). Betonen wir, daß "Gestalten" Ergebnisse von Entwürfen, von "politischer Imagination", sind, so läßt sich formulieren: Einerseits legitimieren Politiker wie Saddam Hussein ihre aggressive Politik durch die Einordnung in die globale Auseinandersetzung "Islam gegen Ungläubige" und "ausgebeutete Völker gegen Imperialisten" gleichermaßen. Andererseits arbeiten europäische Ideologieproduzenten an einer einheitlichen Bedrohungsgestalt "Islam", da eine Ethnisierung der gesamten Dritten Welt schwieriger und eindeutig kolonialismus-verdächtig wäre und der Selbstqualifizierung als Demokratisierer und Friedensbringer im Auftrag einer Völkergemeinschaft widersprechen würde. Daß die Gestalt des feindlichen Islam tatsächlich eine Zielscheibe ist, hinter der sich die Bedrohung durch eine ausgebeutete Dritte Welt verbirgt, mag folgendes Zitat verdeutlichen. Es entstammt dem bereits zitierten Artikel von Ralf Dahrendorf, in dem er eine Rückkehr der Deutschen zum Elementaren suggeriert und den Golfkrieg als Teil eines globalen Kampfes von Grundwerten interpretiert: "Auf der anderen Seite" im Golfkrieg "stehen der Irak und die arabischen Völker, ja die des Islam in aller Welt, und mit ihnen die vielen Entwicklungsländer, die beweisen wollen, daß man dem amerikanischen Imperialismus widerstehen und die gigantische Kriegsmaschine des Westens zumindest aufhalten kann." (Dahrendorf 1991, S. 236)

Worin liegen die ideologischen Vorteile einer Benennung der Gestalt des Bedrohlichen, Aggressiven, unaufhebbar Fremden als "Orient" und "Islam"? Zum einen bilden diese religiös-kulturologischen Gestalten die beste Entsprechung zur ethnischen Selbstdefinition als "christliches Abendland". Zum zweiten können die Oppositionen Christentum-Islam und Orient-Okzident als Bezeichnungen für feindliche Wert- und Machtsysteme verankert werden in früheren Zeiten, im späten Altertum nämlich, und deshalb scheinbaren Anspruch erheben auf zeitenüberdauernde, auch die Gegenwart und Zukunft bestimmende Größen und Schlachtordnungen. Damit verbunden ist, daß im Laufe der Jahrhunderte in Europa viele, widersprüchliche Orient-Bilder entworfen worden sind (vgl. Syndram 1989); ein Klischee, das bis heute weit verbreitet ist, betont das Fremde, Undurchschaubare, Bedrohliche; dieses Klischee läßt sich zur Mobilisierung von Bevölkerungen einsetzen. Der dritte Vorzug liegt darin, daß die Abgrenzung Europas als Wertebegriff und Machtbezirk gegen den Islam mit den Abgrenzungsversuchen von Politikern und Bevölkerungsbewegungen südlich des Mittelmeeres zusammenfällt, in deren Selbstverständigung "Islam" eine zentrale Rolle spielt: Wer auf europäischer Seite eine Feindfigur "Islam" konstruiert, kann sich auf Selbstdarstellungen dieser Politiker und Bewegungen berufen (vgl. Senocak 1991) als Bestätigung der Richtigkeit seines Weltbildes. (Er muß nur den ausgewählten Zitaten islamistischer oder sich so gerierender Politiker den Schein des Heiligen nehmen und durch die Aura des Bösen ersetzen.) Selbstverständlich beruht die Wahl des Feindes Islam bei der (s.o.) nötig gewordenen Neudefinition der Feinde auch auf der Tatsache der Größe und politisch-ökonomischen Bedeutung des Feindgebietes und dem Grad der widerstandsbewußten Mobilisierung seiner Bevölkerung.

Von zentraler Bedeutung ist aber eine weitere, die Festung Europa ideologisch zementierende Tatsache: Die Darstellung der politisch-ökonomischen Auseinandersetzung als Kampf unversöhnlich fremder Kulturen, die Etikettierung des Feindes als "Islam" haben einen doppelten Effekt: Sie bewirken nicht nur Ausgrenzung nach außen, sondern auch eine innere Ausgrenzung ungeliebter, aber geduldeter Mitbewohner der Festung. Dasselbe Wort trifft also den Fremden, Bedrohlichen draußen und drinnen. Es kann zur Mobilisierung für aggressive Politik nach außen und für die Segregation im Innern eingesetzt werden. Staatschefs arabischer Staaten und MaghrebinerInnen in Frankreich oder TürkInnen in der Bundesrepublik gerinnen zu einer Figur; das bedeutet auch, daß der Feind Muslim - auch wo von fernen Staaten die Rede ist - für jeden Europäer eine erhöhte Sichtbarkeit besitzt.

Bereits 1980, als die Debatte über die Integration von ArbeitsmigrantInnen in der Bundesrepublik umschlug in die Debatte über deren Integrationswilligkeit und -fähigkeit, wurde bei den Eingewanderten unterschieden zwischen den "Fremden und Allzufremden" (FAZ 02.12.1982); und die Scheidelinie war bereits damals eine kulturologische und verlief zwischen christlichem Abendland und islamischer Fremde: "Im Gegensatz zu den (...) zentral- oder osteuropäischen Einmischungen in die traditionellen deutschen Stämme handelt es sich bei der Masse der Gastarbeiter um Menschen, zu denen keine so relativ hohe natürliche Affinität besteht wie zu den Europäern der engeren Nachbarschaft." Der damalige Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes riet deshalb (in Die Zeit v. 21.11.1980), "alle Nicht-Zentraleuropäer (...), die noch nicht naturalisiert worden sind", zu "repatriieren".

In den achtziger Jahren verschob sich das Bild des gefährlichen Eindringlings vom sogenannten Gastarbeiter zum sogenannten Asylanten. Wie das folgende Zitat aus dem bereits erwähnten Buch "Sturm auf Europa", das zur Abwehr der "Wirtschaftsflüchtlinge" aufruft, trifft das Etikett "fremder Orient" auch heute beide Bedrohungspotentiale der Festung, die Flüchtlinge und die äußeren Feinde: "Was Ende des 17. Jahrhunderts vor Wien an Prinz Eugen scheiterte, nämlich die Eroberung des christlichen Abendlandes durch die Türkei, könnte den Nachkommen der türkischen Eroberer bald wie eine reife Frucht in den Schoß fallen." (Ritter 1990, S. 53)

Bei der Popularisierung eines Feindbildes sind Fernsehberichte und weit verbreitete, von Verlagen mit der Gattungsbezeichnung "Sachbuch" geschmückte Veröffentlichungen sicher wirkungsvoller als die bisher zitierten Zeitungen und Zeitschriften mit enger begrenzten Zielpublika. Bei der "Innenausstattung" des Feindbildes "Islam" waren 1990/91 sicher Sendungen und Bücher von Gerhard Konzelmann und Peter Scholl-Latour von besonderer Bedeutung. (Ergänzt wurde ihre Wirkkraft durch die indirekte Klischeebildung über die Schilderungen eigenen Erlebens und Erleidens im Weltbestseller und Film von Mahmoody.)

Bei allen inhaltlichen Unterschieden verbindet ihre Bücher und TV-Sendungen die Darstellung des Islam als Bedrohung und diejenige des Abendlandes bzw. Europas als Objekt der Bedrohung. "Die islamische Herausforderung" bildet den Buchtitel und den Zentralbegriff des letzten Satzes von Konzelmanns Buch. Die Zwischenüberschriften des ersten Kapitels überstrahlen inhaltliche Differenzierungen zu einem Bedrohungsszenario, das dem Leser um so mehr Angst einjagt, als die meisten sich als Zitate ausgeben: "'Der atheistischen und der christlichen Welt trotzen!' - 'Der Islam muß den dominierenden Platz einnehmen.' - Warten auf die islamische Atombombe - 'Wehe Euch, ihr Christen des Westens!'" (Konzelmann 1988)

Zweifellos treibt Scholl-Latour die Militarisierung religiös-kultureller Traditionen noch weiter, wenn er sämtliche Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten unter der Überschrift "Das Schwert des Islam" zusammenfaßt. Beiden Autoren gemeinsam ist die Anknüpfung heutiger Auseinandersetzungen an vergangene Epochen. So erfährt der Leser / die Leserin bereits im Vorwort bei Konzelmann: "An diesem Tag", als nämlich Anwar as Sadat seinen "Kampf gegen den Totalitätsanspruch des Islam" und "gegen religiösen Fanatismus" mit dem Tode bezahlte, "mag so manchem Bürger der westlichen Welt erst bewußt geworden sein, daß Postulate, wie man sie von Khomeini oder Al Khatafi seit Jahren zu hören bekommt, kein Zufall und daß charismatische Führer dieser Art kein Betriebsunfall der Geschichte sind. Sie sind Teil einer wiedererstarkenden Tradition, deren Wurzeln bis ins 7. Jahrhundert zurückreichen und mit der sich nicht nur Europa jahrhundertelang auseinanderzusetzen hatte." (Konzelmann 1988, S. 9)

Scholl-Latour ist hier noch radikaler (vgl. Auernheimer 1991, S. 12), indem er die menschheitsgeschichtliche Auseinandersetzung zurückverlängert bis zu den Söhnen Abrahams, d.h. bis in die Antike der jüdisch-christlich-islamischen Mythologie. Die ganze Menschheitsgeschichte wird ihm zur Auseinandersetzung zwischen den Religionen Judentum und Christentum einerseits, Islam andererseits. Nicht nur werden Wurzeln sogenannter okzidentaler Kulturen im Orient verleugnet; Scholl-Latour erzielt auch den politisch gewünschten Effekt, durch seine Geschichtsklitterung, das Judentum und den Staat Israel aus dem Orient herauszureißen und implizit Europa zuzuschlagen.

Die Selbstinszenierung beider Autoren liegt in der Rolle des Warners vor zukünftigen Gefahren, einer Rolle, die ihnen als Experten für das schwer verständliche Denken des Feindes zukomme. Scholl-Latour verbindet die Figur des militärischen islamischen Angreifers mit dem Bild eines militärisch und ideologisch entwaffneten Europas:

"Ein völlig neues idyllisches und eirenisches Weltbild war im Entstehen. Europa, das daranging, im Jahre 1992 seine wirtschaftlichen Binnenmärkte zu arrondieren, wuchs zur wirtschaftlichen Großmacht von Weltformat heran. (...) Wozu brauchte Europa noch Armeen, wo doch seine ökonomische Potenz in einer friedlichen Welt tonangebend und beherrschend war? (...) Diese schöne Vision ist jäh verblaßt, als der Diktator des Irak, Saddam Hussein, im Handstreich das Scheichtum Kuwait eroberte (...)." (Scholl-Latour 1991, S. 8f.)

Scholl-Latours Weltbild ist aber nicht nur in seinem zeitlichen, sondern auch in seinem räumlichen Gültigkeitsanspruch totalitär: Überall sieht sich das christliche Abendland vom Angreifer Islam bedroht. Dies wird offensichtlich, wenn - zunächst gänzlich unverständlich - der Kampf afghanischer Mudjaheddin gegen sowjetische Besatzung unter der Überschrift "Der neue Tatarensturm" erscheint. Der Autor zieht eine Verbindung von den Kämpfen in Afghanistan und ihren Auswirkungen auf die Nationalitätenkämpfe in der Sowjetunion zu der Geschichte des christlichen Rußland. Die Rekonstruktion dieser Geschichte soll die größere Relevanz einer Opposition Nord-Süd, Christentum-Islam gegenüber einer vorübergehenden West-Ost-Konfrontation beweisen:

"Für die Russen, so meint man im Abendland, sei die tödliche Bedrohung stets vom Westen ausgegangen. Am Anfang waren es die katholischen Polen und Litauer, die bis nach Moskau vorstießen. Später kamen die Schweden. Dann waren es die Franzosen unter Napoleon, und schließlich brachen die deutschen Heere zweimal in einem halben Jahrhundert in den russischen Raum hinein. Doch im russischen Unterbewußtsein schlummern ganz andere Ängste. - Zweihundertfünfzig Jahre lang hatten die Tataren (...) sich des gesamten Moskowiterreichs bemächtigt". (Scholl-Latour 1991, S. 138)

Die Heimholung der Sowjetunion in die religiös-kulturell-rassische europäische Festungseinheit bedingt für den Autor die Beendigung kulturell-rassischer Vermischung:

"Die Sowjetunion treibt einschneidenden, schmerzlichen Entscheidungen entgegen. Über kurz oder lang wird sie (sic!) sich von ihren islamischen und fremdrassigen Republiken trennen müssen, doch die Frage ist völlig ungelöst, was mit der dort lebenden slawischen Minderheit geschieht." (ebd., S. 155)

Zur Kennzeichnung des Gegners und seiner Un-kultur zitiert der Autor ein Stereotyp, das sich auf den Iran unter der Herrschaft Khomeinis bezieht - und korrigiert es nicht:

"Wer von islamischer Revolution redet, denkt an diese Phänomene: fanatische Massen, tiefverschleierte Frauen, die die ganze Strenge des koranischen Gesetzes fordern, hysterische, aggressive Frömmigkeit, eine morbide Sucht nach dem Martyrium und ein makabrer Kult mit den Leichen der Märtyrer (...)." (ebd., S. 109f.)

Da der Untertitel der Fernsehsendungen und des Sach-Bilderbuches "Revolution im Namen Allahs" lautet, sollen wir, bei allen differenzierenden Äußerungen in einzelnen Passagen, dieses Bedrohungssyndrom mit seinen Symptomen psychosozialer Krankheit wohl als reales Bild der historischen und aktuellen Wirklichkeit im Nahen Osten gelten lassen.

Im Schlußkapitel dieses Buches verbindet auch Scholl-Latour die Bedrohung durch den äußeren Feind mit der Bedrohung durch eine "Völkerwanderung" der Flüchtlinge. Die einzige Rettung für "die Union des Abendlandes" sei es, eine "Kohäsion" im politischen und strategischen Bereich zu schaffen, welche "die unabdingbare Voraussetzung für den Bestand ihrer wirtschaftlichen Blüte, ja für ihr Überleben darstellt" (ebd., S. 155). Die einzige angemessene Antwort auf die "Herausforderung" scheinen militärische Rüstung und Krieg, denn: "Der Herausforderung der islamischen Revolution wird der Okzident nicht mit Permissivität begegnen können" (ebd., S. 25).

In allen Darstellungen des Konflikts Europa-Islam findet sich implizit oder explizit die Behauptung, die jeweils vertretenen Werte seien nicht nur diametral entgegengesetzt, sondern auch von unterschiedlicher Dignität. Da dieser Gedanke explizit und sehr ausführlich von Ralf Dahrendorf formuliert worden ist, sei dieser nochmals zitiert. Er findet, der im Golfkrieg sichtbar werdende "Konflikt von säkularer Dimension" sei "schwer (zu) benennen". (Interessant an der im folgenden zitierten Stelle ist, daß er zunächst eine religiöse Definition versucht, diese dann zwar verwirft, durch ihre Benennung sie aber in seiner Weltdeutung 'aufhebt'.)

"Es ist sicher kein Konflikt zwischen Islam und Christentum, also kein Heiliger Krieg. Es ist aber ein Konflikt zwischen einem Bild der Welt, in dem das Recht als ein allen Völkern gemeinsames Gut abgelöst wird von sonstigen Glaubensüberzeugungen und internationale Organisationen als Vorboten des Weltbürgertums wirken - und jenem anderen Bild, in dem Religion und Recht ein aggressives Bündnis eingehen, dessen Protagonisten am Ende mit der Aufklärung sowohl die Freiheiten des Rechtsstaates als auch die Wohlstandschancen der modernen Wirtschaftsgesellschaft aufzugeben bereit sind." Man könnte "vom Konflikt zwischen Liberalismus und Fundamentalismus sprechen." (Dahrendorf 1991, S. 237)

Geht es um den Kampf universell gültiger gegen aggressiv partikularistische Werte, so ist der Schluß klar, daß eine "internationale Ordnung" "in eine Form, eine einzige für die Welt" zu gießen und dabei der Fundamentalismus nicht zu tolerieren sei (ebd., S. 238). (Eine Seite zuvor bezeichnet der Autor Gegner der westlichen Intervention am Golf als antiamerikanisch eingestellt - eine Einstellung, die als "antiwestliche Romantik" erscheint. Mit dieser Zuordnung zu Partikularismus und Gegnerschaft zur Moderne finden sich Pazifisten in der gleichen Schublade wie islamische Fundamentalisten: auch dies ein interessanter Aspekt gegenwärtigen "moral rearmament".)

Vielfach ist auf die Unglaubwürdigkeit einer Propaganda hingewiesen worden, welche die westliche Intervention am Golf mit der Verteidigung universeller Menschenrechte begründete (vgl. Chomsky 1991, S. 20ff.). Doch hier geht es nicht um den Vergleich der Selbstinszenierung politischer und militärischer Mächte mit ihrem tatsächlichen Handeln; hier geht es darum, ihre Selbst- und Fremddarstellung nachzuzeichnen und deren ideologische Implikationen herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, eine gewaltbejahende Ideologie zu bekämpfen, die eine humanistische und universalistische Oberflächenstruktur besitzt. Erinnert sei an die Feststellung von Etienne Balibar (1990, S. 75): "Es wäre nicht so schwer, intellektuell den Kampf gegen den Rassismus zu organisieren, wenn das 'Verbrechen gegen die Menschheit' nicht im Namen und mit Hilfe eines humanistischen Diskurses begangen würde."

Hoffnung: Selbstaufklärung

Apropos Parallelen: Ein kritischer Leser wird sicher Parallelen zwischen meiner Argumentation und den nachgezeichneten Festungsgeschichten entdecken: Auch ich habe aus widerstreitenden Diskursen einzelne herausgelöst und hervorgehoben und miteinander zu einem einheitlichen Bild verknüpft. Auch ich habe an einem Bild der Bedrohung gearbeitet, und auch bei mir geschah dies in der Hoffnung, daß dieses Szenario Angst erzeugen, alternative Geschichten und Szenarien stärken (nämlich die Vollendung Europas als Festung be- und verhindern) möge. Ein Unterschied freilich besteht: Meine Geschichte handelt nicht von "uns" und "den anderen", sondern allein von "uns". Denn Nationalismus und Rassismus sind nicht ideologische Waffen von irgendwelchen anderen, uns Fremden, es sind uns selbst behindernde Werkzeuge in unserem eigenen Arsenal der Weltdeutung und Zukunftsplanung (vgl. Narr 1991, S. 5).

 

 

 

Literatur

Auernheimer, Georg (1991). Die unausweichliche welthistorische Konfrontation. In: Forum Wissenschaft 8. Nr. 1, S. 10-12.

Balibar, Etienne u. Immanuel Wallerstein (1990). Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg / Berlin: Argument.

Berndt, Michael (1991). Das Eine tun und das Andere nicht lassen. In: Werner Ruf (Hrsg.): Vom kalten Krieg zur heißen Ordnung? Der Golfkrieg. Hintergründe und Perspektiven. Münster / Hamburg: Lit. S. 114-129.

blätter des iz3w, Nr. 169 (Nov. 1990). Heftthema: Festung Europa. Rassismus, Ausgrenzung, Migration.

Bullard, Michael (1991). Kreuzzug für ein Konsummodell. In: TAZ (Hrsg.): Golf. Journal zum Wüstenkrieg. Frankfurt. S. 49.

Chomsky, Noam (1991). Das Zivilisationsmodell der Bush-Krieger. In: TAZ (Hrsg.): Golf. Journal zum Wüstenkrieg. Frankfurt. S. 20-23.

Dahrendorf, Ralf (1991). Nachdenkliches zum Krieg am Golf. In: Merkur 45, H. 3, S. 233-238.

Demirovic, Alex (1991). Zivilgesellschaft, Öffentlichkeit, Demokratie. In: Das Argument 185 (Jan. / Feb.). S. 41-55.

Frankfurter Allgemeine Zeitung. Leitartikel 01.08.90 - 31.05.91.

Gerhard, Ute u. Ernst Schulte-Holtey (1991). Neue deutsche Kriegsparteien. Zwischen Katastrophismus und Normalität. In: kultuRRevolution 25. S. 14-20.

Hartung, Klaus (1991). Ein zweites München für Saddam Hussein? In: TAZ (Hrsg.): Golf. Journal zum Wüstenkrieg. Frankfurt. S. 60f.

Knapp, Udo (1991). Deutsche Gewissensbisse. In: TAZ (Hrsg.): Golf. Journal zum Wüstenkrieg. Frankfurt. S. 55.

Konzelmann, Gerhard (1988). Die islamische Herausforderung. München: DTV.

Link, Jürgen (1991). Historische Analogien: Strukturen und Funktionen. In: kultuRRevolution 24 (Jan.). S. 3-9.

Lintner, Eduard (1991). Rede anläßlich des Forums zur Ausländerzuwanderung "Fluchtburg oder Festung Europa?" Duisburg 06.05.91. Manuskript.

Mertes, Michael u. Norbert J. Prill (1989). Der verhängnisvolle Irrtum eines Entweder-Oder. Eine Vision für Europa. In: FAZ v. 19.07.1989.

Narr, Wolf-Dieter (1991). Flüchtlinge, Asylsuchende, die Bundesrepublik Deutschland und wir. Sensbachtal: Komitee für Grundrechte und Demokratie.

Poulantzas, Nicos (1978). Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie. Hamburg: VSA.

Ritter, Manfred (1990). Sturm auf Europa. Asylanten und Armutsflüchtlinge. Droht eine neue Völkerwanderung? Mainz / München: Haase & Koehler.

Ruf, Werner (1991). Aussichten auf die neue Welt-Un-Ordnung. In: ders. (Hrsg.). Vom kalten Krieg zur heißen Ordnung? Der Golfkrieg. Hintergründe und Perspektiven. Münster / Hamburg: Lit. S. 83-96.

Scholl-Latour, Peter (1991). Das Schwert des Islam. München: Heyne.

Senocak, Zafer (1991). War Adolf Hitler Araber? In: TAZ (Hrsg.). Golf. Journal zum Wüstenkrieg. Frankfurt. S. 72.

Syndram, Karl Ulrich (1989). Der erfundene Orient in der europäischen Literatur vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Gereon Sievernich u. Hendrik Budde (Hrsg.). Europa und der Orient 800 - 1900. Gütersloh / München: Bertelsmann S. 324-341.

 

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Stand: 25. September 2006